Im Prolog der Geschichte entführt Satu Rämö den Leser bzw. Hörer in den Sommer 1550. Damals begegnen sich Haraldur aus Westisland und Una, die sich in den warmen Monaten um die Gäste einer Herberge auf dem Land des Bauern kümmert, dessen Magd sie ist. Haraldur ist in den weit entfernten Süden des eisigen Landes gekommen, um einen wohlhabenden, einflussreichen Großbauern vor einem Überfall zu warnen. Dass er dabei auch seine zukünftige Frau und die Mutter seiner vielen Kinder kennenlernen wird, ahnt er nicht. Und dass diese Begegnung Hunderte Jahre später einige schicksalhafte Ereignisse in Gang setzen wird, natürlich auch nicht. Und der Leser versteht dies ebenfalls erst, als er gut drei Viertel des Buches gelesen hat. Bis dahin wundert er (oder in diesem Fall sie) sich nämlich darüber, was dieser Prolog mit den Ereignissen in Ísafjörđur und Reykjavik im Jahr 2019 zu tun hat.
Der zweite Prolog hingegen ist weniger rätselhaft. Er erzählt von der achtjährigen Rósa und der sechsjährigen Björk, zwei Schwestern, die im November 1994 den Schulbus verpassen und beschließen, zu Fuß den weiten Weg nach Hause auf sich zu nehmen. Die einen neugebauten Tunnen durchqueren wollen, aber nie wiedergesehen werden … Bei den zwei Mädchen handelt es sich um die kleinen Schwestern von Hildur Rúnarsdóttir, deren Familie durch den Verlust zerbricht, die bei ihrer Tante aufwächst und sich ihr Leben lang die Schuld am Tod (oder zumindest am Verschwinden) der beiden gibt, war sie doch damals krank und konnte sie nicht von der schicksalhaften Entscheidung abbringen. Nun, mit Mitte dreißig, arbeitet sie als Polizistin in ihrem Heimatort und ist dort u. a. für vermisste Kinder und Jugendliche verantwortlich – der Grund dafür liegt nah. 25 Jahre sind seit dem Verschwinden ihrer Schwestern vergangen, als nach einer Schneelawine nicht nur eine Leiche gefunden wird, der man die Kehle durchgeschnitten hat, es finden sich auch eher zufällig neue Hinweise auf den Verbleib von Rósa und Björk.
Hildur ist, wie es sich für Krimis gehört, eine „kantige“, aber sympathische Protagonistin. Sie hat eine Schwäche fürs Surfen, fürs Gewichteheben und Joggen – und besitzt wie viele Frauen in ihrer Familie eine Art Hellsichtigkeit: Sie weiß zwar nicht, was geschehen war, spürt aber körperlich, wenn etwas Schlimmes bevorsteht. Und nun ist es wieder einmal so weit, denn die Leiche des Pädophilen Jón ist nicht das einzige Mordopfer, das man in diesem Herbst finden wird …
Ihr zur Seite steht der (in diesem Auftaktband noch etwas blasse) Finne Jacob. Jacob ist ebenfalls Mitte dreißig, war lange Zeit mit einer Norwegerin verheiratet (in deren Heimat er auch gelebt hat) und hat nun eine schreckliche Scheidung hinter sich. Vor allem leidet er aber darunter, dass seine Exfrau ihm den gemeinsamen Sohn vorenthält. Die Passagen, in denen Jacob verweifelt, aber mit einer erstaunlichen Geduld den Kontakt mit Lena sucht, die ihm den kleinen Mathias entfremdet und nur darauf wartet, dass ihr Exmann laut oder aggressiv wird, haben beim Anhören schier geschmerzt. Hier ist einmal nicht der Vater der Bösewicht, der sich nach der Scheidung nicht um seinen Sohn kümmern will – stattdessen kann man seine Verzweiflung nicht nur seelisch, sondern auch körperlich spüren. Diese Abschnitte sind exzellent von der Autorin beschrieben.
Darüber hinaus erfährt man von Jacob vor allem eines: Um sich nach der traumatischen Trennung wieder zu fangen und innerlich zur Ruhe zu kommen, hat er mit dem Stricken begonnen. Und er ist nicht nur ein exzellenter Stricker, sondern hat schon eine Strickneurose, findet zumindest Hildur, denn die Tasche mit der Wolle und seinem aktuellen Projekt ist nie weit von dem sympathischen Finnen entfernt.
Satu Rämö schildert den Fall um die ungeklärten Todesfälle sehr spannend. Ein großes Plus ist, dass es eine ganze Weile dauert, bis die Zusammenhänge der verschiedenen Opfer ans Tageslicht kommen. Allerdings spielt an dieser Stelle „Kommissar Zufall“ doch eine größere Rolle – wobei mir nur die gekürzte Hörbuchversion vorliegt, sodass ich nicht beurteilen kann, ob es bei der Printausgabe nicht doch anders ist. Das Verbindungsglied zu den weiteren Bänden der Reihe dürfte das Verschwinden der beiden Schwestern vor 25 Jahren sein, zu dem im Rahmen der Ermittlungen einige neue Hinweise ans Licht kommen. Ich hege hier einige Befürchtungen, von denen ich hoffe, dass sie sich nicht bewahrheiten werden.
Bei all dem beschreibt die Autorin ihre Wahlheimat Island mit großer Hingabe. Die raue Landschaft, die Naturgewalten, die dünne Besiedlung weiter Teile des Landes – all das kann man sich dank ihrer anschaulichen Beschreibungen sehr gut vorstellen. Dieser erste Band spielt im Winter, weshalb ständig Dunkelheit und frostige Kälte herrschen, was man als Hörerin zu spüren meint. Und auch der Menschenschlag, der in einem solchen Land lebt und mit Isolation und langer Dunkelheit konfrontiert ist, wird ebenfalls vor den inneren Augen des Lesers lebendig. Hier beschreibt Rämö sehr schön die Hilfsbereitschaft der Menschen und auch ihre Verbundenheit miteinander: dass es für die Isländer normal ist, Ahnenforschung zu betreiben – nicht nur, um der eigenen Familie auf die Spur zu kommen, sondern auch, um herauszufinden, ob der oder die Auserwählte nicht doch ein Cousin oder eine Cousine ist. Oder die Vorliebe der Isländer für Todesanzeigen, die im Gegensatz zu denen in anderen Ländern halbe Romane sind, weil die Hinterbliebenen darin das gesamte Leben mit all den Erfahrungen, Vorlieben und Hobbys der Verstorbenen abbilden, sodass die Todesanzeigen in den Tageszeitungen fast mehr Platz in Beschlag nehmen als die eigentlichen Nachrichten.
Über das Hörbuch
Das Hörbuch wird gelesen von der deutschen Schauspielerin Heike Warmuth (*1979). Von 2016 bis 2018 spielte Warmuth in der RTL Seifenoper Alles was zählt die Rolle der Carmen Bauer. Darüber hinaus spielte sie auch mit in u. a. Die Kirschenkönigin (2004), Unter den Linden – Das Haus Gravenhorst (2006) oder auch Einzelepisoden von In aller Freundschaft, SOKO Leipzig, Danni Lowinski, Die Pfefferkörner.
Warmuth gibt den einzelnen Figuren durch Veränderung von Sprechhöhe und -geschwindigkeit und anderen Charakteristika ganz eigene Züge, sodass sie beim Anhören auf angenehme, sympathische Weise lebendig werden.
Mein Fazit
Ein kurzweiliger Roman, der alles hat, was ein guter Krimi braucht: einen spannenden Fall (oder gleich mehrere), facettenreiche Charaktere und ein interessantes Setting. Der Autorin ist es gelungen, alle Fäden am Ende logisch zusammenzuführen, wenn die Auflösung auch weniger primär das Resultat von Ermittlungen ist als vielmehr eines Zufalls (sodass man nur bedingt mitraten kann). Aber das ändert nichts daran, dass ich mich sehr gut unterhalten fühlte und neugierig bin, wie es mit Protagonistin Hildur weitergeht oder ob Jacob irgendwann einmal seinen Sohn sehen wird.
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