Ich erinnere mich noch, dass in meiner Kindheit im Postamt Fahndungsplakate hingen. Ich wusste nicht, was ein Terrorist ist, konnte auch die RAF nicht zuordnen und habe mich fürchterlich gegruselt. Während ich mit meiner Mama in der Schlange stand, habe ich mir immer alle Menschen ganz genau angeschaut, ob vielleicht jemand von den Plakaten darunter ist. Kaum hatten wir die Post verlassen, hatte ich die unheimlichen Geschichten schnell wieder vergessen und war einfach nur ein unbeschwertes Kind.
In genau diese Zeit versetzt uns Ellen Sandberg mit ihrem neuen Roman. Er spielt auf zwei Zeitebenen. Heute und zwischen Ende der 1970er und 1980er Jahre.
In den 1970er Jahren gehörten Barbara und Gernot als Studenten zur Hausbesetzerszene und wollten mit dem Establishment nichts zu tun haben. Auch nach dem Abschluss des Studiums sind beide Teil der linken Szene und setzen sich als Anwältin und Autor für politische Ziele ein und gehören schließlich sogar zum Unterstützerkreis der RAF, bringen Waffen von A nach B, besorgen falsche Ausweise oder mieten Wohnungen als Unterschlupf an. Eigentlich sind sich beide genug und bekommen daher eher aus Versehen drei Kinder. Das erste, Ben, wird geboren, weil Barbara und Gernot auf dem Weg zur Abtreibung verhaftet werden und die zulässige Frist nach der U-Haft abgelaufen ist. Die 2. Schwangerschaft bekommt Barbara wegen Prüfungsstress nicht mit und so kommt noch ein Zwillingspaar zur Welt. Die Familie zieht von der Besetzer-WG in eine heruntergekommene Mühle in einem Eifeldorf. Dort werden die Kinder mehr oder weniger sich selbst überlassen. Was nach antiautoritärer Erziehung klingen könnte, weist deutliche Züge von Vernachlässigung auf. Ben ist ungefähr zehn Jahre alt als Barbara und Gernot erneut vorübergehend festgenommen werden. Gernots Bruder Lukas war an einem Bombenanschlag auf einen Staatssekretär beteiligt und so geraten auch die beiden in den Fokus der Ermittlungen. Als sie wieder frei sind, verlässt die Familie das Dorf und zieht nach Stuttgart. Für Ben ist dies ein tiefer Einschnitt im Leben, auch wenn er bis heute nicht genau weiß, warum.
Inzwischen sind Barbara und Gernot über 60. Sie haben schon vor langer Zeit viele ihrer Ideale über Bord geworfen und eine große Erbschaft angenommen. Davon konnten sie jahrzehntelang auf großem Fuß leben, auch wenn ihre Jobs nicht viel Geld eingebracht haben. Das Erbe ist inzwischen aufgebraucht, genauso wie das Geld, das eine Hypothek eingebracht hat. Die Raten können beide nicht mehr bedienen. Als ihre Kinder sich weigern, die Kosten zu tragen, überlegen sich beide einen anderen Plan. Sie wissen, dass bis heute RAF-Mitglieder im Untergrund leben und ihren Unterhalt mit Bankraub und Überfällen verdienen. Da ist es doch nur gerecht, wenn man ihnen einen Teil der Beute abgibt, um nicht bei der Polizei angeschwärzt zu werden. Natürlich stellen sich Barbara und Gernot eine solche Erpressung etwas zu einfach vor.
Der 2. wichtige Handlungsstrang dreht sich um Ben, den ältesten Sohn. Er lebt mittlerweile in München und ist erfolgreich in der Versicherungsbranche. Auf seiner täglichen Joggingrunde wird er Zeuge einer Messerstecherei, bei der eine Frau stirbt. Traumatisiert kann er sich nicht an die Tat erinnern, trotzdem setzt der Täter, ein führendes Clan-Mitglied, alles daran, ihn aufzuspüren. Ben zieht sich in eine Ferienwohnung in dem Eifeldorf seiner Kindheit zurück, begleitet von einer vom Dienst suspendierten Polizistin, die auf ihn aufpassen möchte. Im Gespräch mit seinen Geschwistern stellt sich heraus, dass dies nicht der erste Gedächtnisverlust von Ben ist. Auch an viele Ereignisse seiner Kindheit kann er sich nicht erinnern. Mit viel Ruhe und einem Besuch der alten Mühle, kommen nach und nach Erinnerung ans Licht. Und er findet heraus, dass seine Eltern schlimme Dinge getan und vertuscht haben.
Ich könnte noch viel mehr über dieses Buch schreiben, aber ihr sollt ja noch ein paar Überraschungen beim Lesen erleben.
Ellen Sandberg gelingt es wieder einmal hervorragend tatsächliche historische Ereignisse am Beispiel fiktiver Menschen einzufangen. Barbara und Gernot gab es nicht im Umfeld der RAF, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es Paare gab, die ihnen ähnlich waren. Sympathisch waren mir die beiden überhaupt nicht und ich gönne ihnen, das was mit ihnen in diesem Roman passiert, von Herzen (nein, hier spoilere ich nicht).
Beide sind sehr intelligent und handeln komplett egoistisch. Wie gesagt, Kinder waren unerwünscht und das bekommen diese auch während der gesamten Kindheit und Jugend zu spüren. Keine Teilnahme an schulischen Veranstaltungen, Wünsche werden nicht unterstützt, am 18. Geburtstag stehen die Koffer vor der Tür und Unterhaltszahlungen werden so schnell wie möglich eingestellt. Trotzdem erwarten Barbara und Gernot, dass die Kinder finanzielle Unterstützung leisten. Ein recht naiver Glaube. Der Umgang mit den Kindern ist schrecklich, auch dass niemand bei der Vernachlässigung eingegriffen hat. Lehrer haben es versucht, wurden aber unter Androhung von Gerichtsverfahren von weiteren Maßnahmen abgehalten.
Die Naivität zeigt sich auch beim Erpressungsversuch. Kann man wirklich glauben, dass Menschen, die mehr als 30 Jahre im Untergrund gelebt haben, einfach Geld rausrücken und sich erpressen lassen?. Diese Stelle habe ich für sehr unrealistisch gehalten, aber – so viel sei verraten – natürlich ist es nicht so einfach, von daher muss ich diese Kritik wieder zurückziehen.
Auch den Handlungsstrang, in dem es um Gernots Bruder Lukas und die minutiöse Planung des Bombenanschlags geht, fand ich sehr spannend.
Für mich ist es insgesamt ein sehr gelungenes Buch. Ich habe keine tiefen Kenntnisse der RAF-Szene, kann mir aber vorstellen, dass vieles genau so oder ähnlich gelaufen ist. Warum sich jemand radikalisiert, wie die Gruppenstrukturen waren, wie ein Ereignis zwangsläufig zum nächsten Knall führt. All das macht Geschichte sehr lebendig. Immer wieder heißt es „das Private ist immer auch politisch“ und genauso ist es auch in dieser Geschichte. Das Privatleben von Barbara, Gernot und ihren Kindern ist stark von Politik geprägt, die Arbeit, die politischen Aufgaben, haben immer Vorrang vor den Bedürfnissen der Kinder. Die „kommen schon klar“, was in den Kinderseelen vor sich geht und welche Grausamkeiten sie vielleicht mitbekommen haben, interessiert nicht.
Ellen Sandberg hat sich auch hier wieder einen wichtigen Stoff der deutschen Vergangenheit ausgesucht und hervorragend umgesetzt.
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