"Das strömende Grab" ist Band 7 der Reihe um den Londoner Privatdetektiv Cormoran Strike und seine Kollegin Robin Ellacott und mit 1.296 Seiten fast so lang wie "Das tiefschwarze Herz" (das Hörbuch ist interessanterweise länger als das des Vorgängers). Der Originaltitel des Buches – "The Running Grave" – wurde dieses Mal einem Zitat von Dylan Thomas entnommen: "When, like a running grave, time tracks you down" ("Wenn die Zeit dich einholt wie ein strömendes Grab ..."). Dies gibt schon einen ersten Hinweis auf einen zentralen Aspekt der Geschichte: Jemand wird von seiner Schuld, von etwas, das er oder sie in der Vergangenheit getan hat, eingeholt.
Aber nicht nur die "Leichen der Vergangenheit" holen jemanden ein, auch Strike wird in gewisser Hinsicht von seiner eigenen Sterblichkeit "eingeholt": Wir befinden uns in der "Vor-Brexit-Zeit". Strike ist gerade ist 41 Jahre alt und nach den gravierenden gesundheitlichen Problemen, mit denen "Das tiefschwarze Herz" geendet hat, macht er nun endlich eine Bestandsaufnahme. Einerseits in körperlicher Hinsicht: Er stellt seine Ernährung um und das Rauchen ein und verliert so Dutzende von Kilos, um seinen Stumpf nicht länger so schwer zu belasten und leistungsfähiger zu sein. Aber auch im Hinblick auf seine Vergangenheit und die Beziehungen in seinem Leben ist er nun endlich bereit, ehrlich zu sein – allen voran zu sich selbst. Endlich gesteht er sich das ein, was auch der letzte Leser schon lange weiß: Er ist in seine Geschäftspartnerin Robin verliebt. Insofern weckt in Strike das Bewusstsein seiner eigenen Sterblichkeit den Willen zum (richtigen) Leben. Allerdings läuft das Ganze natürlich nicht ohne den einen oder anderen Rückfall ab. Wenn er seinen Frust nicht mit Zigaretten oder ungesundem Essen (und zu vielen Pints) verarbeitet, dann mit Sex mit Frauen, die ihm nichts bedeuten – und das kann ihn dieses Mal nicht nur sein geliebtes Privatleben kosten, sondern stellt auch eine Bedrohung für seine Detektei dar!
Doch nicht nur im Hinblick auf seine eigene Gesundheit oder die Beziehung zu Robin wird ihm bewusst, dass wir Menschen einmal sterben müssen. Er wird auch zunehmend mit dem Verlust von anderen geliebten Menschen konfrontiert. Seine Mutter hat er ja bereits vor vielen Jahren verloren, was seither vieles in seinem Leben auf die eine oder andere Weise bestimmt. Aber dann hat er in "Das tiefschwarze Herz" seine Ersatzmutter Joan verloren und stellt nun in diesem neuen Roman fest, dass auch sein Ersatzvater aka Onkel – Joans Mann – sich langsam aus dieser Welt und damit aus Strikes Leben entfernt: Er leidet unter Demenz.
Galbraith vermittelt hier auf wunderbare und kluge Weise, was sich in unser aller Leben vollzieht, wenn wir älter werden. Aber das tut sie nicht (nur) im Hinblick auf den körperlichen Bereich, sondern auch im Hinblick auf unsere Seele: Wenn wir uns auf das Älterwerden einlassen, dann kann uns das helfen, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten; zu erkennen, dass viele Dinge, die wir einmal für bedeutsam gehalten haben, eigentlich gar nicht so wichtig sind. So schmerzhaft Verlust auch sein kann, er kann uns helfen zu erkennen, dass wir gewisse Dinge nicht auf "später" verschieben sollten, dass wir das Leben jetzt leben müssen und Menschen sagen sollten, was sie uns bedeuten – bevor es zu spät ist. Und so gewinnt auch Strike in diesem Buch ein bisschen mehr emotionale Intelligenz – wenn dieser Prozess sich auch wie gesagt nicht ohne Rückschritte vollzieht.
Robin steht ebenfalls an einem neuen Punkt in ihrem Leben. Zum einen in beruflicher Hinsicht. Sie ist nicht länger Strikes Angestellte, sondern gleichberechtigte Geschäftspartnerin und begegnet ihm auf Augenhöhe. Mit anderen Worten: Sie ist nicht länger der Dr. Watson zu Strikes Sherlock Holmes. In Das strömende Grab tut sie nun etwas, das kein anderer Angestellter der Detektei je hat tun müssen, auch Strike selbst nicht: Sie geht undercover in einer Sekte.
Aber auch privat hat sie ein neues Kapitel aufgeschlagen. Einerseits ist auch sie schon länger in ihren Geschäftspartner verliebt, doch da dieser keine Anstalten zu machen scheint, ihre Gefühle zu erwidern, sondern sich ständig in neue Beziehungen oder zumindest zu neuen Sexpartnern flüchtet, hat sie beschlossen, CID Ryan Murphy eine Chance zu geben. Die beide sind nun ein Paar – und Robin erlebt etwas, das sie mit ihrem Exmann nie hatte: eine gleichberechtigte Partnerschaft, in der sie ernst genommen wird und in der man (Mann) akzeptiert, dass ihr Beruf für sie Priorität hat. Da Murphy Polizeibeamter ist, ist er mit den Erfordernissen ihrer Arbeit vertraut und akzeptiert, dass sie eben keinen 9-to-5-Job hat.
Aber auch jenseits einer romantischen Beziehung erkennen sowohl Robin als auch Strike spätestens in diesem Buch, wie nah sie einander auch als Freunde sind, wie wichtig es für beide von ihnen ist, den jeweils anderen anrufen zu können, wenn es Probleme gibt. Und als dies im Buch einmal nicht möglich ist, erkennt zumindest Strike, dass in seinem Leben ein ganz zentraler Bereich "leer" bleibt, wie allein er ist, wenn Robin nicht als Ansprechperson zur Verfügung steht. Und im Gegenzug ist der Gedanke an ihn auch das, was Robin über weite Strecken Halt gibt, wenn die Herausforderungen eines Undercover-Einsatzes in einer Sekte ihr über den Kopf zu wachsen drohen. Indem Galbraith die beiden zentralen Charaktere über weite Strecken voneinander trennt, bringt sie sie doch auf seltsame Weise einander näher. Aber wie lange wird es Robin trotz dieses emotionalen Ankers gelingen, den psychologischen Kniffen und Taschenspielertricks der Sekte zu widerstehen?
Der Roman hat nicht nur im Hinblick auf die beiden zentralen Charaktere einiges zu bieten. Bei dem siebten Band der Reihe handelt es sich nicht um einen klassischen Whodunit-Roman. Mich hat schon immer die Frage beschäftigt, wie Menschen in eine Sekte abgleiten können. Ist es eine Typfrage – gibt es Menschen, die labil sind und damit anfälliger für die Einflüsterungen von irgendwelchen spirituellen Führern? Wie können im Grunde intelligente, aufgeklärte Personen Opfer von Manipulationen werden? Bis zu einem gewissen Grad kann ich es ja nachvollziehen, dass man einem Guru, einer religiösen Gruppierung folgt, die Erfüllung und Zufriedenheit, innere Ruhe und Frieden etc. versprechen. Aber warum steigen Sektenanhänger nicht spätestens dann aus, wenn ihre körperliche Gesundheit gefährdet ist? Wenn man ihnen die Nahrung verweigert, um sie zu "erziehen" oder zu bestrafen, sie körperlich züchtigt, weil sie gegen irgendwelche (ungeschriebenen) Regeln verstoßen? Wenn sie unter dem Vorwand „Es ist ja für die Gruppe“ oder „Es ist ein Zeichen für deine spirituelle Reife“ manipuliert werden, Dinge zu tun, die ein Nicht-Sektenangehöriger nicht tun würde – auf lebenswichtige Medikamente verzichten, gegen den eigenen Willen mit fremden Männern schlafen, zulassen, dass die eigenen Kinder misshandelt oder gar missbraucht werden, etc. Robert Galbraith aka J. K. Rowling setzt sich in ihrem neuen Roman unter anderem auch mit dieser Frage exzellent auseinander.
Die Handlung von "Das strömende Grab" ist aufgrund des Themas und des enormen Fundus an handelnden Figuren wieder eine echte Herausforderung gerade für Hörbuchnutzer. Langweilig ist die Geschichte nicht eine Minute lang – man stellt irgendwann fest, dass man schon zehn Stunden gehört hat, gefühlt aber gerade erst in das Hörbuch eingestiegen ist –, dazu ist die Geschichte einfach zu facettenreich, spannend und zu gut erzählt. Wenn Strike und Robin Sektenaussteiger und/oder ihre Angehörigen befragen und so ihr Bild der UHC vervollständigen – und dessen, was dort wirklich abläuft –, steigt auch die Spannung der Leser bzw. Zuhörer. Was geht hinter den Toren der Kirche wirklich vor sich? Was geschieht mit dem Geld, das die Mitglieder erbetteln? Was verbirgt sich hinter den fünf verstorbenen Propheten – ging es vielleicht beim einen oder anderen Tod nicht mit rechten Dingen zu? Und was ist vor allem mit der "ertrunkenen Prophetin" Daiyu, die im Zentrum des Glaubenssystems der UHC steht und Abtrünnige heimsucht und tötet?
Sehr anschaulich und tiefgehend beschreibt Galbraith dabei die Sekte, ihre Führer und ihre Anhänger, ihre Botschaften – und vor allem das bedrückende Glaubssystem mit seinen Bestrafungsmethoden, die jeden Anhänger seinen guten Menschenverstand über Bord werfen lassen. Die Sekte verbreitet simple Botschaften, Allgemeinplätze, und spricht mit ihrer Mischung aus fernöstlicher Philosophie, christlichem Gedankengut und psychologischen Gemeinplätzen jeden und jede an – jeder findet auf diesem spirituellen Büfett etwas, das ihr und ihm "vernünftig" erscheint. Aber auch Gegner von westlichem Kapitalismus oder Kritiker der Pharmaindustrie finden sich hier wieder. Gruppendruck, Hirnwäsche, selektive Darstellung oder das Aufbauschen von tatsächlichen gesellschaftlichen Defiziten kommen noch hinzu. An der Spitze des Ganzen eine charismatische Persönlichkeit, die gemeinsam mit dem Führungskreis mithilfe einer Mischung aus Hunger, harter, eintöniger Arbeit, aufgezwungenem Schlafmangel und einer simplen Gegenüberstellung von "die böse Welt da draußen" und "wir Guten/Auserwählten hier drinnen" Hunderte Menschen in diversen Ländern dazu bringt, ihm zu folgen. Und der Gemeinschaft ihr Geld zur Verfügung zu stellen. Es braucht nicht nur eine starke, gefestigte Persönlichkeit, sondern auch einen festen Halt außerhalb der Sekte, um dem zu widerstehen – und selbst das genügt irgendwann nicht länger. Man könnte zweifellos ganze Aufsätze darüber schreiben, auf welche Weise es Papa J und der UHC im Roman gelingt, die Menschen aufs Schrecklichste zu manipulieren.
Neben dem Fall um die Kirche/Sekte Universal Humanitarian Church betreut Strikes Detektei noch weitere Fälle, die – wie so oft – aber nur eine Nebenrolle spielen: In einem Fall geht es eine wohlhabende Ehefrau, die davon überzeugt ist, dass ihr Mann sie betrügt; in einem anderen um eine bekannte Schauspielerin, die von einem Stalker belästigt wird; und in einem dritten um eine wohlhabende ältere Frau, die die Befürchtung hegt, dass ihr Boy Toy sich auch anderweitig vergnügt.
Über das Hörbuch
Das Hörbuch wird – wie auch schon die Vorgänger – von Dietmar Wunder gelesen. Wunder liest den Roman nicht einfach nur vor und verleiht den einzelnen Figuren durch eine unterschiedliche Sprechweise einen eigenen Charakter, wie dies viele Sprecher tun. Nein, er erschafft ein regelrechtes Hörerlebnis und erweckt die Figuren regelrecht zum Leben, was gerade bei den Figuren bedrückend ist, denen wir in der Sekte begegnen – man nimmt ihm hier sowohl die Verführer als auch die aufs Schrecklichste Manipulierten ab. Das wirkt sich auch auf die Dialoge aus: Sie wirken überaus realistisch, weil Sprechgeschwindigkeit, Pausen oder sprachliche Eigenheiten echt wirken. Gerade hier läuft Wunder zur Hochform auf.
Mein Fazit
Durch die schockierenden Szenen in der Sekte und den erschreckenden Umgang mit den Kindern streckenweise kein einfacher Lesestoff. Das Buch hat mich so manches Mal auch nachts nicht schlafen lassen – weil ich mit Robin mitgefiebert habe, aber auch weil mich das Thema der Sekten nicht losließ, wird es doch mit allen seinen entsetzlichen Facetten von Galbraith einfach nur großartig beleuchtet!
Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen
Von: Chridhe
Von: Hörbuch Junkies
Von: Birgit Kleffmann
Von: Catherine Oertel
Von: Aleshanee, Weltenwanderer
Von: Luckyside
Von: Sylvia Hertel / cybergirl
Von: claudia_liest
Von: Elke Heid-Paulus
Von: Nicoles Bücherwelt
Von: Lilli33
Von: 3lesendemaedels