Alles beginnt mit einem Brief…
Das Haus der Verlassenen beginnt mit einem Brief von Ivy an das kleine Mädchen Evelyn, in dem sie diese bittet, zu fliehen. Noch ahnt man nicht genau wovor, man spürt jedoch Ivys Verzweiflung, denn ihr Plan steht fest: sie möchte sich umbringen und durch den Trubel, der dabei entsteht, Evelyn ermöglichen zu fliehen. Sie schickt ihr den Schlüssel zu einem geheimen Gang und bittet sie, draußen in Freiheit nach Evelyns Zwillingsschwester Kitty zu suchen, von der diese bis dahin noch nicht einmal etwas wusste.
Bereits dieses erste kleine Stück Text ist faszinierend, weckt Neugier und den Drang, unbedingt weiterzulesen und zu erfahren, was Ivy zu diesem Schritt getrieben hat. Und genauso geht es in dem spannenden Roman auch weiter:
…der Sams Neugier weckt
Im Hier und Jetzt erzählt Autorin Emily Gunnis die Geschichte von Sam, die gerade, nach der Trennung von ihrem Freund Ben, mit ihrer kleinen Tochter Emma bei ihrer Großmutter eingezogen ist. Sam geht es wie vielen Alleinerziehenden heutzutage, sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Arbeit und ihrem Kind, versucht alles unter einen Hut zu bringen. Ihr Ex ist dabei keine allzu große Hilfe und so kann sie sich nur auf ihre Großmutter verlassen, während sie als Reporterin für eine kleine Zeitung von ihrem Chef hin und her geschickt wird. Doch dann spielt das Schicksal ihr einen Brief in die Hände, den ihre Großmutter unachtsam liegen gelassen hat. Der Brief ist von Ivy an ihren Geliebten, Alistair geschrieben. Sie bittet und bettelt, dass er sie zu sich holen soll, denn sie ist in einem Heim für ledige Mütter gefangen, wo sie Alistairs Kind erwartet. Noch glaubt Ivy an ein Missverständnis, glaubt fest daran, dass ihr Geliebter sie zu sich holen wird und mit ihr und dem Ungeborenen eine Familie gründen wird. Ausführlich berichtet sie, wie es dazu kam, dass sie in St. Margaret’s gelandet ist. Auf Nachfrage berichtet Sams Großmutter, dass der Brief wohl in einem alten Schrank gewesen sein muss, den Sams verstorbener Großvater einst erstanden hatte. Und dort finden sich noch mehr Briefe, alle von Ivy an Alistair, einer flehentlicher als der andere – bis sie resigniert.
Sam ist schwer fasziniert von dem Brief und beginnt zu recherchieren. Dabei erfährt sie, dass das Heim in nur wenigen Tagen abgerissen werden soll und sie weiß: die Zeit drängt. Entgegen aller Vernunft stürzt sie sich auf die Geschichte. Sie riskiert durch die nicht abgesprochenen journalistischen Arbeiten ihren Job, auch ihre Familie, weil sie kaum noch Zeit für Emma hat und schließlich auch ihr Leben und das ihrer Tochter; denn Sam ist keineswegs nur als Reporterin involviert, sondern viel mehr, als sie jemals ahnte.
Spannung pur…
Der Schreibstil von Emily Gunnis macht es einem sehr einfach, dran zu bleiben. Ich habe das Buch im Rekordtempo verschlungen und die letzten 150 Seiten in einer Nachtschicht gelesen, weil ich nicht aufhören konnte. Was sich erst nach einem Drama anhörte, entwickelt sich zu einem echten Thriller, den man kaum aus der Hand legen kann.
Die Story ist gut aufgebaut, hat die richtigen Spannungselemente, die richtigen Zeit- und Personenwechsel, so dass man wirklich super mitfiebern kann. Einen kleinen Verdacht, was passiert sein könnte, hatte ich zwar schon ab etwa der Hälfte des Buches, aber die Auflösung war dann doch noch etwas anders als erwartet. Sehr realistisch und einfühlsam wird auch Sams Gefühlsleben beschrieben. Mit ihr konnte ich mich in vielen Punkten gut identifizieren, ihre Neugier, ihr Bestreben die Wahrheit zu erfahren, auch wenn ich selbst sicher nie so weit gegangen wäre wie sie.
…angelehnt an wahre Begebenheiten
Die Vorstellung, dass es in den 1950er Jahren noch immer solche Mutter-Kind-Heime gab, die den jungen Müttern vermittelten. dass sie eine Schande für ihre Familie seien, dass sie es nicht wert waren, geliebt zu werden, dass ihre Kinder in fremden Familien besser aufgehoben seien, ist für mich schockierend. Eine Generation, die in Jahren nicht so weit von meiner weg und gedanklich doch komplett fremd ist! Es fiel mir emotional sehr schwer zu lesen, wie mit den jungen Frauen, teilweise ja sogar noch Mädchen, umgegangen wurde, wie hart sie arbeiten mussten, wie sie misshandelt wurden. Das alles oft mit dem Wissen ihrer Familie, oder zumindest mit der Ahnung. Babys, die den Müttern direkt aus der Hand gerissen wurden, nachdem sie sie alleine zur Welt bringen mussten, und die dann zur Adoption freigegeben wurden – wenn sie Glück hatten und überlebten. Trotzdem ist das Buch nicht reißerisch geschrieben, nicht wie ein Psychothriller, der in Details beschreibt, wie Menschen gequält werden. Durch die Ich-Perspektive, in der Ivy in ihren Briefen schreibt, scheint das Ganze einen dokumentarischen Charakter zu haben, der einen zwar trifft, aber das Ganze aushalten lässt.
Ihr Debütroman ist Emily Gunnis absolut gelungen und ich freue mich schon darauf, noch mehr von ihr zu lesen.
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