Als dem aus Tansania, genauer Sansibar, stammenden Autor Abdulrazak Gurnah im letzten Jahr der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, war zunächst einmal die Ratlosigkeit recht groß. Auch Literaturkenner:innen war der 1948 geborene Gurnah meistenteils unbekannt, in Deutschland war keines seiner Werke aktuell lieferbar. Lässt man mal die beiden weißen Südafrikaner:innen Nadine Gordimer und John M. Coetzee beiseite, ist Gurnah erst der dritte Literaturnobelpreisträger aus Afrika (nach dem Nigerianer Wole Soyinka und dem Ägypter Nagib Machfus). Kritische Stimmen merkten an, dass es sich aber wieder um einen in der Diaspora lebenden und auf Englisch schreibenden Autoren handelt. Schön, dass die Leser:innen sich nun mit Das verlorene Paradies, dem viertem, für den Booker Prize 1994 nominierten Roman von Abdulrazak Gurnah, nun selbst ein Bild von dessen literarischem Werk machen können.
„Erst der Junge. Sein Name war Yusuf, und in seinem zwölften Jahr verließ er ganz überraschend sein Zuhause.“
DIE “YUSUF”-GESCHICHTE
Der Junge Yusuf, hier liegt eine sich im Laufe der Erzählung bestätigende Parallele nahe, und zwar die zur Josefsgeschichte der Bibel oder, natürlich noch naheliegender, der Geschichte des Propheten Yusuf im Koran, die mit dieser fast identisch ist. Und tatsächlich gibt es zahlreiche Übereinstimmungen. Wie der Prophet wird auch der Junge Yusuf als Arbeitskraft verkauft. Nicht seine Brüder, sondern sein Vater, der ein kleines Hotel an der Küste Tansanias führt und sich hoch verschuldet hat, gibt ihn an einen reichen Händler ab. Als Pfand und billige Arbeitskraft in dessen Laden. Eine Praxis, die augenscheinlich nicht selten war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zunächst noch als abenteuerliche Reise mit „Onkel Aziz“ empfunden, merkt Yusuf erst nach und nach, dass er seine Eltern wohl nicht mehr wiedersehen wird.
Yusuf ist von freundlichem, etwas naivem Wesen und außerordentlicher Schönheit, so dass er die Herzen nicht nur seines neuen Herrn, sondern auch von dessen anderem „Gehilfen“ Khalil, des Gärtners Mzee Hamdani, des Inders Kalasinga und später, erst gegen Ende des Buchs, aber umso verhängnisvoller, der Frau von Onkel Aziz erobert. Die Herrin lebt zunächst abgeschottet in einem Haus inmitten eines paradiesischen Gartens, hoch ummauert und mit einem Teich versehen, dessen Wasserrinnen in alle vier Himmelsrichtungen fließen. Betörende Blumen und Früchte wachsen hier. Er ist wie ein Paradies. Yusuf ist der Zutritt aber nur zum Arbeiten gestattet.
DIE EXPEDITION
Der eintönigen, letztlich aber nicht unangenehmen Arbeit im Laden des Händlers und dessem Garten wird Yusuf eines Tages entrissen. Aziz will ihn auf eine seiner Expeditionen ins Landesinnere zu den „Wilden“ mitnehmen. Derart verächtlich bezeichnen die arabischstämmigen Bewohner der Küste, deren Vorfahren unter anderem mit Sklavenhandel reich geworden sind, die Schwarzen Einwohner des Landes. Sklaverei ist offiziell um 1900 nicht mehr gestattet, inoffiziell läuft das Geschäft weiter, auch wenn die Araber und die Inder, die als fleißige Händler in Ostafrika auch oft zu Reichtum gekommen sind, schon längst nicht mehr die Herren im Land sind. Seit 1885 ist Tansania Teil der deutschen Kolonie Ostafrika und die Kolonisatoren machen sich bemerkbar.
„Alles ist im Umbruch. Diese Europäer sind wild entschlossen, und bei ihrem Streit um die Reichtümer der Erde werden sie uns alle zermalmen. Ein Narr, der glaubt, sie seien hier, um irgendwie etwas Gutes zu tun. Sie sind nicht am Handel interessiert, sondern an dem Land selbst. Und an allem, was darin ist…, an uns.“
DIE “WILDEN”
Besonders die Rigidität der Deutschen verblüfft die Afrikaner. In Das verlorene Paradies werden von Abdulrazak Gurnah die unterschiedlichsten Rassismen dargestellt. Die Schwarze Bevölkerung gehört für die Araber und Inder im Land zu den „Wilden“, so wie sie alle für die Europäer als zu beherrschende „Eingeborene“ gelten. Für diese sind aber umgekehrt die Europäer die „Wilden“ und dazu noch ausgesprochen hässliche und grausame. Die Lage im damaligen multiethnischen, multireligiösen und multilingualen Ostafrika ist komplex. Im Zweifel sind immer „die Anderen“ die „Wilden“. Die Verwendung der diffamierenden, heute nicht mehr zu verwendenden Begriffe wird vom Verlag in einer editorischen Notiz erklärt und ist für mich im Zusammenhang der Geschichte notwendig.
„Die Kaufleute sprachen mit Verwunderung von den Europäern, eingeschüchtert von ihrer Wildheit und Rücksichtslosigkeit.“
Gurnah zerstört mit seinem Roman jegliche Romantisierung Afrikas, auch des präkolonialen. Die Welt war hier auch vor Ankunft der Kolonisatoren alles andere als ein „Paradies“. Das wird besonders deutlich bei der ausführlichen und teils grausamen Schilderung der Handelsexpedition ins Landesinnere. Für Leiden, Gräuel und absurde Situationen brauchen die Menschen die Kolonisatoren nicht, die teilweise eher ein wenig lächerlich dargestellt werden. Am Ende zeichnet sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs auch deren Ende in Afrika ab.
DER GARTEN
Von der anstrengenden und gefährlichen Expedition zurückgekehrt, schließt sich wieder der Kreis zur Prophetengeschichte. Die Herrin in ihrem paradiesischen Garten stellt dem nun siebzehn Jahre alten Yusuf nach, dieser weist sie ab, sie zerreißt sein Hemd von hinten. Auch hier wird das als Beweis für seine Unschuld anerkannt. Das könnte das Ende der Geschichte sein. Abdulrazak Gurnah wählt ein anderes, mich nicht wirklich überzeugendes und einige Fragen aufwerfendes.
Abdulrazak Gurnah lässt viel erzählen in Das verlorene Paradies. Dabei herrscht oft ein ziemlich derber, vulgärer Umgangston. Andererseits ist die Erzählung, gerade auch in ihrer Perspektive auf den jungen Yusuf sehr menschenfreundlich, oft heiter und humorvoll. Wenn nicht gerade Personenrede vorherrscht, erzählt bei Abdulrazak Gurnah ein auktorialer Erzähler, was das Ganze ein wenig traditionell macht. Der Penguin Verlag will nun das gesamte Werk Abdulrazak Gurnahs in Angriff nehmen, im März bereits erscheint Ferne Gestade, das keine historische, sondern eine zeitgenössische Thematik enthält. Ich freue mich drauf.
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