Wenige Literaturnobelpreisträger konnten mich bisher so begeistern wie Abdulrazak Gurnah, dem 2021 der Preis verliehen wurde und den hierzulande bis dahin kaum jemand kannte. Alle Übersetzungen waren zum Zeitpunkt der Verkündung nur noch antiquarisch zu bekommen. Sehr schnell hat sich allerdings der Penguin Verlag verdient gemacht, alle Romane von Abdulrazak Gurnah auch in Deutschland verfügbar zu machen und veröffentlicht diese seitdem nach und nach, so nun auch den 2017 im Original erschienenen Roman Gravel Heart, in der Übersetzung Das versteinerte Herz.
Shakespeare-Kundige könnten im Originaltitel ein Zitat des Dichters erkennen. Es stammt aus dem eher unbekannten Stück „Maß für Maß“ und ist nur eine der zahlreichen (literarischen) Anspielungen, die der Autor in seinem so zugänglichen Roman versteckt. „Unfit to live or die. O gravel heart“ heißt es dort. Und natürlich ist es auf den Ich-Erzähler der Geschichte bezogen. Und wer den Plot des Stückes im Kopf hat, ist auch bei Das versteinerte Herz auf der richtigen Spur.
Der Ich-Erzähler Salim zeigt wie in den meisten Romanen Abdulrazak Gurnahs starke Ähnlichkeiten mit dem Autor selbst. Er erzählt rückblickend auf seine Kindheits- und Jugendjahre in Sansibar und England und beginnt so:
„Mein Vater wollte mich nicht.“
Diese bittere Bilanz zieht Salim als Kind in Sansibar. Der Vater Masud verlässt die Familie, als der Junge sieben Jahre alt ist. Seitdem haust Masud in einem kleinen Zimmer hinter einem Laden. Seinen Job bei der staatlichen Wasserbehörde hat er unter der sozialistischen Diktatur bereits vor längerer Zeit verloren und hält sich nun mit einem Marktstand über Wasser. Salim bringt ihm jeden Tag das von der Mutter zubereitete Essen, aber sein Vater beachtet ihn kaum. Die Mutter hat sich von ihm getrennt und führt eine neue Beziehung zu einem einflussreichen Regierungsmitglied, mit dem sie auch eine Tochter hat. Bereits Masud wurde von seiner Familie verlassen. Die Eltern zogen mit den Schwestern zunächst nach Dubai und dann nach Kuala Lumpur, weil sie als ehemalige muslimisch-arabische Kolonialbeamte für sich nach der Unabhängigkeit Sansibars keine Zukunft im Land mehr sahen. Jahre später, bereits verlassen, folgt er seinen Eltern nach Kuala Lumpur.
Salim fühlt sich wertlos, ungeliebt und einsam, da auch seine Mutter Saida keine Nähe zu ihm aufbaut. Warum die Familie so zerrüttet ist, erfährt der Junge erst, als er nach dem Tod der Mutter nach Sansibar zurückkehrt. Inzwischen ist er nämlich mit seinem Onkel Amir, dem Bruder Saidas, der im diplomatischen Dienst arbeitet, nach England gezogen, um in London zu studieren. Zunächst beginnt er mit BWL, weil das der Onkel so will, aber sein Herz schlägt für die Literaturwissenschaft. Als er deshalb das BWL-Studium aufgibt, wirft ihn der vermögende Onkel raus. Nun muss Salim sich durch allerlei Jobs über Wasser halten.
Er sitzt zwischen den Stühlen, zwischen Sansibar und London, fühlt sich nirgends richtig zuhause, erfährt Rassismus, hat nur wenige Freunde und auch Liebesbeziehungen, die alle tragisch scheitern, fühlt sich einsam und schwer zurecht. Er schreibt Briefe an seine Mutter, die er aber meistens nicht abschickt. „Unfit to live or die“ Und es ist wohl auch sein Herz, das in der Fremde ein wenig versteinert und zum Titel des Romans führt. In Sansibar schließlich bringt die Aussprache mit seinem Vater, der ebenfalls zurückgekehrt ist, ein wenig Licht in die Geheimnisse einer mehr oder weniger gescheiterten Familie.
Abdulrazak Gurnah ist ein eher konventioneller Erzähler. Was aber keinesfalls negativ gemeint ist. Er ist ein präziser, ruhiger Chronist, die vermeintliche Schlichtheit seiner Erzählung ist äußerst kunstvoll und sein Blick auf Afrika ein sehr kritischer. Der Kolonialismus wirkt fort, aber es sind auch die Afrikaner, die seiner Meinung nach zu wenig daran ändern. So ist Das versteinerte Herz ein melancholischer, fast ein wenig pessimistischer Roman, wären da nicht immer Menschen, die die Hoffnung nicht sterben lassen.
„Die Liebe beginnt mit der Erinnerung an einen Segen“ ist nicht nur das Motto des Buches, sondern auch eine Weisheit, die Masud an Salim weitergibt. Und so kann auch Salim am Ende ein wenig versöhnlich auf seinen Vater schauen.
„Väter sind nicht immer einfach, vor allem, wenn sie selbst ohne Vaterliebe auskommen mussten;(…) Und wie alle Menschen haben auch Väter damit zu kämpfe, dass das Leben gnadenlos voranschreitet; oft haben sie kaum genug Kraft für ihr eigenes trostbedürftiges Ich, geschweige denn Liebe für das Kind, das in ihrem Leben aufgetaucht ist wie aus dem Nichts.“
Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen
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