Stephen King wird alt.
Jedoch wirkt er - zumindest in seinem Erzählen - höchst agil und alles andere als gebrechlich. Er verliert sich nicht heillos in sich wiederholenden Worthülsen, sondern schöpft aus einem beträchtlichen Erfahrunggsschatz. Er zerfließt nicht in ziellosem Weltschmerz, sondern kanalisiert die Kritik, die er anzubringen hat, in pointierten Seitenhieben.
Kurz: Stephen King altert wie Sean Connery in seiner Schauspielerkarriere, er reift wie erlesener Wein, entwickelt wie edler Käse neue Geschmacksnuancen. Der literarische Blutdurst verganener Jahre scheint endgültig gestillt, jene Momente des Schreckens, die in der öffentlichen Wahrnehmung zu seinem Markenzeichen wurden, sind in den neueren Werken nur mehr vereinzelt und wohldosiert zu finden. Inzwischen erweckt jener Mann, der als einer der erfolgreichsten Schriftsteller gilt und der bei seinen Lesungen wie ein Popstar ganze Hallen füllt, den Eindruck, als sei er auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Literatur seines Landes: der Great American Novel. Dieser Begriff bezeichnet jenes Idealbild eines sprachlich ausgefeilten Romans, der eine typisch US-amerikanische Atmosphäre (soweit es eine solche denn geben kann) abbildet und seinen Lesern vermittelt. Dieses Ziel entspringt nicht zuletzt auch dem Bedürfnis nach kultureller Identität, nach einer geistigen Abgrenzung von der Alten Welt.
Bei King speisen sich die lokalen Spezifika aus seinem reichen Erinnerungsschatz, er erzeugt in seinen Romanen immer wieder die Tage seiner Kindheit und Jugend, der 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Ganz besonders bemerkt man dies etwa in "Der Anschlag", wo die Luft der frühen Sixties noch frischer und das Fleisch noch geschmackvoller ist. Er erzählt von der guten alten Zeit, ohne sie explizit als solche zu bezeichnen. Er klagt nicht mit wehmütiger Nostalgie, sondern erweckt die Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs, der Asphaltcowboys und der goldenen Jahre Hollywoods anhand unzähliger Sinneseindrücke zum Leben. Stephen King wirkt zunehmend gesetzter, kontemplativer, begreift sein Schaffen immer mehr als Kunstform. Damit erlaubt er sich auch einzelne Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb, wenn er konstatiert, es sei eine "... erbärmliche Illusion, daß die Natur menschliche Gefühle wiederspiegelte. Sie war nichts weiter als ein billiger Trick zweitrangiger Schriftsteller zum Erzeugen von Stimmungen."
Und genau der Wertschätzung der erzählenden Tätigkeit widmet er sich in seinem neuen Werk ganz besonders. Seine Romane sind mit überproportionaler Häufigkeit von Autoren und Englischlehrern bevölkert (auch King unterrichtete lange Jahre dieses Fach) und spielen üblicherweise in seiner Heimat Maine an der amerikanischen Ostküste. Auch in "Misery" schildert er das Grauen eines Schriftsellers, der von einem besessenen Leser in Geiselhaft genommen wird. In "Finderlohn" stellt er das Vermächtnis des fiktiven Autors John Rothstein jedoch derart prominent in den Vordergrund, daß daneben alle anderen Handlungselemente verblassen. Der Roman beginnt mit dem Traum eines jeden Berufskollegen Kings: In einem emotionalen Streit mit einem Leser über die Entwicklung einer Romanfigur wird Rothstein von diesem erschossen. Dabei läßt King bewußt offen, ob es sich um einen Wunsch- oder einen Alptraum handelt. Wenn es einem Erzähler gelingt, sein Publikum derart mitzureißen, in einen an Wahn grenzenden Rausch zu versetzen, hat dieser sein Ziel dann nicht erreicht? Die Beute des Überfalls umfaßt neben einer beträchtlichen Menge Bargeld auch etliche Notizbücher mit Romanfragmenten des ermordeten Autors. Zwar bieten die Banknotenbündel dem späteren Finder Peter Saubers eine beruhigende materielle Absicherung, doch enthalten die eng beschriebenen Seiten der Moleskines zwei vollständige Werke, die eine enttäuschend endende Trilogie zu einer brillanten Pentalogie formen. Dieser ideelle Wert bildet somit den wahren, quantitativ nicht meßbaren Schatz. Die Romanfigur Jimmy Gold überlebt ihren Schöpfer, schlägt den (einzigen) Leser noch eine Generation später in ihren Bann. Stephen King begreift hier die Literatur als Kunstform für sich (als l'art pour l'art), auf die man keinen Besitzanspruch erheben soll. Hier wird für die Literatur gemordet, hier stehen Leser im wahrsten Sinne des Wortes Feuer und Flamme.
Bezeichnenderweise ist es ein Englischlehrer, der für das heimliche Herzstück des Romans verantwortlich zeichnet. Er entfacht in Peter Saubers die Leidenschaft zur Literatur und ermöglicht es ihm somit, den Wert der zufällig gefundenen Notizbücher zu erkennen. Seine erste Stunde mit der neuen Schulklasse eröffnet dieser Lehrer mit dem plakativen Satz "Das ist langweilig." Dies sei die häufigste Einschätzung unerfahrener Leser eines nicht unmittelbar zugängigen Werkes der Weltliteratur. Vieles, das sich in diesem Kanon finde, sei tatsächlich langweilig, vieles erschließe seine wahre Tiefe dem Leser erst beim zweiten, dritten, vierten Male, bei intensiverer Beschäftigung. Letztendlich sei es die Zeit, die das endgültige Urteil fälle. Geschichten und Gedanken, die im Gedächtnis verbleiben, die Jahre überdauern, seien jene, die wahrhaft bereichern.
Mit diesem Plädoyer für das Schreiben, das Lesen und den Respekt vor jeder Meinung darüber hat King aber auch schon nach dem ersten Drittel des Romans seinen Höhepunkt erreicht. Üblicherweise versteht er es meisterhaft, die Spannung bis ins Unerträgliche zu steigern und im Finale bombastisch zu entladen. Hier verhält es sich eher umgekehrt: Das Schicksal der Notizbücher des ermordeten John Rothstein, des nach seiner Haft entlassenen Mörders Morris Bellamy und des daraufhin gejagten Finders Peter Saubers bildet zwar fesselnde, nichtsdestotrotz biedere Krimikost. Als zweiter Teil der Trilogie um den Privatdetektiv Bill Hodges fügt er sich geschickt an den Vorgänger "Mr Mercedes", doch wird man den Eindruck nicht los, daß die Auflösung des Verbrechens nur eine Fassung für den Diamanten, Kings Liebeserklärung an die Literatur sei.
Nicht ohne Grund ist inzwischen David Nathan zur festen Hörbuchstimme von Stephen King geworden. Ebenso, wie der Autor die Zeit seiner Jugend mit allen Sinnen erfahrbar werden läßt, ist es der Synchronstimme von Johnny Depp zu verdanken, daß die Figuren neben dem Hörer Platz nehmen, um ihm ungefragt ihre Sicht der Welt zu erklären. Kollege Sebastian vom Blog buecher-monster.de beschreibt die Wirkung, "... als würde Stephen King seine Charaktere extra für dessen Art des Vorlesens erschaffen." und wird damit sogar auf der Verpackung der Hörbuch-CD zitiert.
Fazit:
Nach seinem autobiographischen Ratgeber "Über das Schreiben" bringt Stephen King seine Leidenschaft für die Literatur diesmal in Romanform zum Ausdruck, die - der Form geschuldet - in eine notwendige, jedoch nicht sonderlich außergewöhnliche Krimihandlung mündet. Dennoch: lesens- und vor allem hörenswert.
Bemerkung in eigener Sache: Die Notizen zu dieser Rezension wurden in einem Moleskine-Notizbuch verfaßt.
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