Der Begriff „Systemrelevanz“ wird gerade neu definiert. Nachdem der Kulturbetrieb darauf gedrängt hat, genauso wie Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Arztpraxen zur Daseinsvorsorge zu gehören, sind auch die Buchhandlungen wieder offen. Das Buch ja, die Buchhandlung ja, die Literatur ohnehin – doch wie verhält es sich mit dem einzelnen Schriftsteller? Diese Frage stellte Benjamin Quaderer auf Twitter, indem er von seinen Followern wissen wollte, ob sie ihn für systemrelevant hielten. Immerhin 100 „gefällt mir“ meinende Herzen erhielt der Tweet bis heute. Wenn es nicht eine dreiste Anmaßung wäre, könnten wir nun sein Buch zur Hand nehmen und nach sorgfältiger Prüfung über die Systemrelevanz seines Autors entscheiden.
„Too big to fail“ hieß es 2008, als die Banken gerettet wurden. Wenn es danach ginge, hätte Benjamin Quaderers gewichtiges Romandebüt „Für immer die Alpen“ mit beinahe 600 Seiten auch eine gute Chance, unter einen Rettungsschirm zu schlüpfen. Dergleichen hat dieses so gewagte wie vergnügliche Buch aber überhaupt nicht nötig. Die Faszination, die von seiner Hauptfigur ausgeht, und der nicht zu unterschätzende Mut, ein ganzes Leben – und ein wenig auch die ganze Welt – zu seinem Thema zu machen, heben den Roman aus der Masse der Neuerscheinungen heraus.
Außerdem bietet es die hochwillkommene Möglichkeit, ein kleines L-förmiges, aus nur elf Dörfern bestehendes Land kennenzulernen: Das Fürstentum Liechtenstein. Die Plattform ‚Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein‘ bekennt freimütig: „Als einziger Liechtensteiner Schriftsteller im deutschen Sprachraum bekannt geworden ist Michael Donhauser (*1956), besonders als Lyriker.“ Die eigene Ignoranz als Hauptgrund mitbedenkend tritt man Donhauser wohl nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass die ganz große Wirkung auch seines Schaffens bisher ausblieb. Quaderer, der sich in seinem Debüt eindringlich mit seiner offenbar ambivalenten Beziehung zu seiner Heimat auseinandergesetzt hat, kommt das Verdienst zu, die literarische Landkarte der deutschsprachigen Literatur um ein charaktervolles Fleckchen Erde erweitert zu haben.
Die Bauweise von Quaderers Debüt ist anspruchs- und kunstvoll zugleich. Der Hochstapler Johann Kaiser versucht aus der Retrospektive sein Leben zu ordnen. Dazu stützt er sich auf eigene und fremde Aufzeichnungen, seine mitunter brüchigen Erinnerungen, Videoaufnahmen und – wie es sich für einen Hochstapler gehört – unter Vorspiegelung falscher Tatsache ergaunerter Zeugenaussagen. Form und Inhalt korrespondieren eng miteinander. Der exzentrische Charakter Johann Kaisers, den man aus psychologischer Sicht vermutlich irgendwo auf dem Autismus-Spektrum einordnen müsste, beansprucht im gesamten Roman sein Recht.
Zu allem Überfluss scheint Kaiser auch noch literarische Ambitionen zu hegen. Dies beweist schon der Anfang des Romans, indem sich der Held u.a. über die Begleitumstände seiner eigenen Geburt vernehmen lässt. So kann er sich etwa noch gut an seine Reaktion erinnern, als er zum ersten Mal den Vater erblickte: „Vor lauter Entsetzen, dass ich mit diesem Menschen den Rest meines Lebens verbringen würde, stieß ich einen Schrei aus der die Scheiben in den Fensterrahmen zum Schwingen brachte.“ Johann Kaiser ist oft komisch, ohne komisch sein zu wollen. Dass man sich auch an dieser Stelle nicht sicher sein kann, ob der Hochstapler die Passage als eine der Vollständigkeit halber hinzuerfundene Anekdote oder doch als Tatsachenbericht verstanden wissen will, macht ein Gutteil der Faszination für die Figur aus.
Am etwas überbordenden Einsatz von formalen und sprachlichen Kabinettstückchen, die eine solche Erzählerfigur notwendig mit sich bringt, könnte der weniger geneigte Leser Anstoß nehmen. Hat Quaderer diese vielleicht gar nicht nötig? Ein wenig fühlt man sich an Reich-Ranickis berühmte „Zigeunermusik-Kritik“ der Blechtrommel erinnert, in der Reich-Ranicki Grass vorwarf, „durch effektvolles Spiel das Publikum zu hypnotisieren.“ Die Grass-Verweise, auf die man in „Für immer die Alpen“ stößt, lassen ohnehin die Deutung zu, dass Quaderer durchaus einiges vom Blechtrommel-Grass gelernt hat. Reich-Ranicki sah sich schon bald genötigt, seinen Vorwurf zurückzunehmen. In David Hugendicks Kritik in der ZEIT kehrt er jetzt auf Quaderer bezogen zurück, wenn in seiner Kritik von „strapaziösen Metamätzchen“ die Rede ist.
So weit wie Hugendick muss man nicht gehen. Sein Widerwille gegen Quaderers Ausschweifungen scheint vielmehr vom guten alten Klischee der Literaturseminarprosa herzukommen, das in seiner Kritik wieder einmal aufgewärmt wird. Es wird festgestellt, Quaderer „hat am Literaturinstitut in Hildesheim studiert, was man seinem Debüt in seinen stärksten ebenso wie in seinen schwächsten Passagen anmerkt“. Immerhin gilt Hugendick dieser Hinweis auf die „Herkunft“ des Autors auch zur Erklärung derjenigen Passagen, die er für gut gelungen hält. Dennoch ist ein solcher Zugriff ein bisschen billig. Man liest, ah, der Autor war in Leipzig oder Hildesheim, hm, er spielt ein wenig übermütig mit literarischen Formen, da haben wir also einen Literaturseminaristen vor uns, vulgo: einen künstlich gemachten, keinen authentischen, von der Not zum Schreiben gedrängten Schriftsteller.
Dabei sind Quaderers Ausschweifungen mitunter wirklich hinreißend. Etwa, wenn er seinen Erzählfluss mitten im Bericht von Johann Kaisers Australien-Abenteuern durch die auf gut neun Seiten in einer Winzschrift-Fußnote ausgedehnte Geschichte von Thomas Cook unterbricht. Selten hat einem ein Roman derart das Nervenkostüm zerzaust. Noch nie hat solche Nerverei dabei so blendend unterhalten. Die Thomas-Cook-Episode ist nicht nur hervorragend erzählt, die Ausschweifung und das sich Verlieren im Detail bringt den Charakter Johann Kaisers perfekt auf den Punkt, indem sie ihn nicht erklärt (was vermutlich langweilig wäre), sondern mit einem literarischen Taschenspielertrick vorführt.
Allerspätestens das berührende Ende beweist: Benjamin Quaderer ist es ernst mit der Literatur. Neben vielen anderen denkbaren Interpretationen ist der Hochstapler Johann Kaiser wohl auch ein Bild für den Schriftsteller als solchen. Indem er seine ganze Existenz auf das Schreiben begründet, fürchtet er sein Absinken in das Nichts in dem Moment, in dem er den Laptop zuklappt. Sein Schreiben ist die stets prekäre Selbstverteidigung und Selbsterhaltung eines Menschen, der nicht anders kann. An Johann Kaiser lässt sich studieren, was es in der Moderne, die Geniekult und übersteigerte Verehrung des Schriftstellers abgeschafft hat, bedeutet, ein ebensolcher zu sein.
„Die liechtensteinische Literaturszene lebt am Anfang des 21. Jahrhunderts von der arrivierten Garde des 20. Jahrhunderts, der es noch nicht vergönnt ist, den Aufbruch und die Nachfolge einer jungen Schriftstellergeneration auszumachen.“ So bilanzierte das ‚Historische Lexikon des Fürstentums Liechtenstein‘ Ende 2011. Aber jetzt ist ja zum Glück Benjamin Quaderer da. Wichtig für Liechtenstein. Relevant für uns alle.
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