Mitgift von Ulrike Draesner

Ulrike Draesner Mitgift

Draesners hellsichtiger Roman über das vergiftete Erbe der binären Ordnung und das Recht, Diversität zu leben – nun endlich wieder lieferbar

Nicht einfach, eine Schwester zu sein, wenn die andere so schön ist, so leuchtend, so geheimnisvoll. Auf Anita und Aloe Böhm liegt ein Familiengeheimnis. Im Deutschland der 90er-Jahre weiß niemand damit umzugehen: Anita, die Jüngere, wurde als Intersex geboren. Mit Operationen und Hormonen versuchte man, ihre wahre Körpergeschichte zu tilgen und vor ihr und der Schwester zu verheimlichen. Erst als Studentin stellt Aloe sich den Fragen, die Anitas rigide Einpassung auch für sie, die »Normale« aufwerfen: Was bedeutet es, eine Frau zu sein? Biologisch? Und sozial? Sie beginnt, auf radikale Weise mit der Formbarkeit ihres eigenen Körpers zu experimentieren. Anita wiederum, verheiratet mit einem älteren Mann, versucht wieder zum Intersex zu werden. Endlich gelingt es den Schwestern, sich zu verbünden. Doch bei ihrem letzten Schritt unterschätzen sie die irrationalen Kräfte der Konvention.

Ulrike Draesner brillanter Roman »Mitgift«, erstmals 2002 erschienen, erzählt vom vergifteten Erbe der binären Ordnung und dem Recht auf Diversität. Das Werk, bei seinem Erscheinen der gesellschaftlichen Entwicklung weit voraus, liegt nun in einer von der Autorin dem heutigen Sprachgebrauch angepassten Neuauflage vor.

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Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen

  • Von: Ingeborg Rosen

    Ich habe die aktuelle Neuausgabe gelesen - ich kenne die Version von 2002 nicht. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Roman es “schwer” hatte. Auch die Neuausgabe ist keine Unterhaltungslektüre, aber sicher wichtig und führt hoffentlich dazu, dass das Leben für non-binäre Personen selbstverständlich wird.
  • Von: Bjoernandbooks

    Aloe und Anita – zwei Schwestern, so unterschiedlich und sich dennoch sehr nahe. Zumindest in ihrer Kindheit. Während Anita wunderschön ist und eine ganz besondere Ausstrahlung besitzt, läuft Aloe eher mit, steht im Schatten ihrer Schwester. Doch Anita zeichnet sich noch durch mehr aus, das sie im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnlich macht. Aufgrund einer Uneindeutigkeit der geschlechtlichen Zuordnung wurde Anita schon kurz nach ihrer Geburt operativ in eine Schublade gesteckt, wurde ihr eine Zuweisung durch manipulative Eingriffe zugewiesen. Seitdem hat sie mit ihrer Identität zu kämpfen, auch wenn sie sich diese inneren Zerrissenheiten nicht anmerken lässt, vielmehr Stärke und Selbstsicherheit nach außen suggeriert. Aloe hingegen führt einen offenen Feldzug gegen sich und ihren Körper, widersetzt sich der vermeintlichen Normalität, deren Position sie in der Familie einzunehmen hat. Sie hungert, nimmt immer weiter ab, muss sich behandeln lassen. Auch die Beziehung mit Lukas wird auf fortwährende Proben gestellt – und schließlich die Frage nach einer eigenen Familie, der sich sowohl Anita als auch Aloe stellen müssen... „Dabei sei das Männliche die Abweichung , hatte Anita Aloe erklärt. Sogar biologisch! […] Das Weibliche war der Grundmodus des Menschen. Doch wer wollte das schon hören“ (S. 360) Bereits vor 22 Jahren erschien „Mitgift“ von Ulrike Draesner, zu einer Zeit, in der die Thematik rund um Geschlechtsidentität sowie die Konstruktion von biologischem ebenso wie sozialem Geschlecht noch in ziemlichen Anfangsschuhen steckte. Gerade eine Bearbeitung in literarischen Formaten fand nun rudimentär, wie zum Beispiel in Jeffrey Eugenides' „Middlesex“ statt. Draesners Text aus heutiger Sicht in behutsam bearbeiteter Form zu lesen ist erhellend. Besonders die gewählte Erzählperspektive – hier spricht, berichtet und fühlt die Schwester der intersexuell geborenen Anita – gibt einen spannenden Einblick, der das Außen mit dem Innen unmittelbar verknüpft. Aloes „Schicksal“ als die „Normale“ in der Familie betrachtet zu werden, was dafür sorgt, dass sie häufig untergeht, untergeordnet wird, scheint doch Anita in allem erfolgreicher, schöner und strahlender zu sein, kehrt die vermeintliche Schwäche zunächst um. Aloe kämpft sich durch eine Magersucht, versucht durch die stetige Gewichtsabnahme eine Art des Verschwindens herbeizuführen, ohne dabei konkret suizidale Gedanken zu haben. Über Anita erfahren wir zunächst nicht besonders viel, und wenn, dann durch Aloes Augen. Im Zentrum stehen hier eher Aloes Liebesbeziehung zu Lukas, ein Miteinander, das einerseits innig und vertraut wirkt, andererseits aber auch von Missständen und viel Ungesagtem dominiert wird. Als Anita schließlich schwanger wird, stellt sich auch für Aloe die Familienfrage – die sie nachhaltig zu beantworten versucht, ihren durch die Magersucht geschädigten Körper dabei jedoch nicht als starken Partner an der Seite hat. Überhaupt gelingt es Draesner eindrücklich Körperlichkeit und Geschlecht, vor allem auch in seinem sozialen Verständnis von Rollenerfüllung, am Beispiel dieser zwei Schwestern zu zeichnen. „Mitgift“ trägt auch eine Form familiären Erbes durch die Erzählung. Da kommen Themenbereiche wie Schuld und Sühne hinein, derer sich Draesner mit einer sprachlichen Kunstfertigkeit und erzählerischer Nonchalance bedient. Gerade zu Beginn fällt es nicht ganz leicht, sich auf diesen zunächst etwas artifiziell erscheinenden Duktus einzulassen. Doch mit fortschreitender Handlung wird deutlich, wie sehr nur genau diese sprachliche Form repräsentativ für die Geschichte von Aloe und Anita sein kann, rücken wir doch immer näher an die beiden Schwestern heran. „Mitgift“ ist aus heutiger Sicht kühn und weitblickend, analytisch und bestechend genau, mit furiosem Finale – ein Psychogramm einer Frau, der das Normalsein zur größten Herausforderung wird!
  • Von: MarieOn

    Aloes Freund Lukas hat sich der Raumfahrt gewidmet und studiert in Oxford. Aloe jobbt nach ihrem Studium in Kunstgeschichte hier und dort in Deutschland. Sie empfindet ihr Gefühl von Verlassenheit befriedigend dramatisch wenn sie mit Lukas telefoniert, allein, das ist ihr die Entfernung zwischen ihnen wert. Nachdem Aloe eine Weile gependelt ist, ist Lukas zu ihr gezogen. Er arbeitet die meiste Zeit im Institut und löst mathematische Herausforderungen. Aloe kompensiert ihre Einsamkeit, gelegentliche Schübe von Traurigkeit mit Essen. Sie nimmt einige Kilo zu und gewinnt den Eindruck, dass Lukas sich nicht mehr für Sex interessiert. Lukas hatte, was sie bald den Arbeitsblick nannte. Er war verschachtelt in sich gekehrt aber gesprächig, sogar witzig, solange andere dabeisaßen. S. 67 Ihre Mutter Ingrid, mit der Aloe gezwungenermaßen telefoniert, erzählt ihr stets von den Errungenschaften ihrer klugen Schwester, die seit neustem modelt. Aloe glüht innerlich, wenn sie von Anita hört, der schönen, hellblond gelockten, mit dem perfekten Körper. Diese Gespräche zwingen ihren Kopf in ihre damalige Welt, wie Anita sie im Krankenhaus beschwor Lollo halt mich fest. Was machen sie mit mir? Aloe wollte die Ärzte und ihre lächelnden Eltern nur beobachten. Anitas Schreien nicht an sich heranlassen. Fazit: Ich mag den Konflikt, den Aloe mit ihrer Familie und ihrem Freund, eigentlich mit sich selbst hat. Sie hadert damit, dass Anita stets die Besondere war. Jeder interessierte sich für sie während Aloe nur die “Normale” war. Dennoch empfindet sie die damalige Zweigeschlechtlichkeit Anitas auch als Erwachsene noch als Makel. Die Wut über die Gegebenheiten war größer, als das Mitgefühl für ihre Schwester. Jeder noch so kleine Erfolg auf dem Weg des Gesehenwerdens, des Frau werdens (Periode), hat Aloe innerlich gefeiert. Aloes Selbsthass hat die Autorin gut eingefangen, die plötzlich mit ihrer eigenen Weiblichkeit hadert. Den Erzählstil mochte ich nicht so gerne. Ich habe eine Weile gebraucht, mich auf die Sprache einzulassen. Vielleicht lag es am auktorialen Erzähler oder am Rhythmus. Ich weiß es nicht. Die Geschichte ist, obwohl schon vor elf Jahren geschrieben, erstaunlich aktuell. Und weil sie in die heutigen Diskussionen, warum gendern, wenn man doch alles beim alten lassen kann passt, möchte ich sie, zwecks Bewusstseinserweiterung, empfehlen.