Ich mag George Saunders. Ich hab ihn nur leider vergleichsweise spät entdeckt. Erst als vor einigen Jahren die geschätzte Thea Dorn Saunders‘ „Lincoln im Bardo“ – völlig berechtigt – über den grünen Klee lobte, stieß ich auf das Werk des Meisters der zeitgenössischen Kurzgeschichte. Dementsprechend führte auch kein Weg an „Tag der Befreiung“ vorbei. Glücklicherweise.
Dabei gibt es literarische Gattungen, in denen ich nicht über besonders umfangreiche Expertise verfüge. So einige. Die Lyrik gehört beispielsweise zweifellos dazu. Aber eben auch die Kurzgeschichte. Nach der Lektüre von „Tag der Befreiung“, sowie der vorangegangenen von „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ könnte sich das aber durchaus ändern.
Saunders versammelt in seinem Buch insgesamt neun verschiedene Kurzgeschichten unterschiedlichster Länge, von der nur wenige Seiten umfassenden Geschichte „Mein Haus“ bis zum fast schon novellenhaften Umfang der titelgebenden Geschichte „Tag der Befreiung“.
In allen diesen Kurzgeschichten ist der Name Programm. Es geht durchgängig um Lebenssituationen und Umstände, mal auch „nur“ um Gefühlszustände, aus denen die Protagonisten mal mehr, mal weniger freiwillig eine Befreiung ihrer selbst anstreben.
Den Auftakt macht in der Geschichte „Liebesbrief“ ein Brief eines Großvaters in den USA der Zukunft, in denen unzweideutig ein ehemaliger Präsident, der sich derzeit anschickt, aus unerfindlichen Gründen erneut dieses Amt zu bekleiden, obwohl nicht nur Jimmy Kimmel die Ansicht vertritt, es sei „past your jail time“, regiert und das politische und gesellschaftliche Leben völlig auf den Kopf gestellt hat. Wie es sich für zünftige Autokratien gehört, scheinen dort diverse Dinge plötzlich illegal zu sein, die man in Demokratien derzeit noch als selbstverständlich erachtet, und so ist augenscheinlich auch der Enkel in dieser Geschichte in gewissen diesbezüglichen Schwierigkeiten, der sich ratsuchend an seinen Großvater wendet – und wohl nicht ganz die erhoffte Antwort erhält.
In „Die Mom der kühnen Tat“ geht es um eine Mutter, die aufgrund des unangemessenen Umgangs mit ihrem Sohn nahezu einen Rachefeldzug vom Zaun bricht. Insofern stellt die Geschichte unter anderem die Frage, inwieweit die eigene „Befreiung“ Konsequenzen, gar Einschränkungen für andere bedeuten kann und ob man sich dieser Verantwortung bewusst ist. Die „Eigenverantwortung“-FDP hätte ihre Freude an der Geschichte.
In wohlige, nahezu gefühlsduselige Gefilde führt uns der Autor mit „Spatz“, in dem es um zwei junge unscheinbare Menschen geht, die den Beweis dafür antreten, dass wirklich auf jeden Topf ein Deckel passt, wenn man nicht gerade ein Wok ist, und dass es vollkommen egal ist, was andere Leute darüber denken. Hach, schön!
Saunders Geschichten zu lesen, macht insbesondere dann viel Spaß, wenn man vorher „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ gelesen hat, seine vorlesungsartige Auseinandersetzung mit den russischen Kurzgeschichten solcher Größen wie Tolstoi oder Tschechow. Die Kurzgeschichten darauf abzuklopfen, inwieweit sie inhaltlich oder im Aufbau und Figurenkonstellationen dem entsprechen, was Saunders in „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ alles so aufgeführt hat, macht auf eine fast schon diebische Art Freude, wenn man an so etwas Freude empfinden kann. Zumal die Antwort auf das besagte Abklopfen lautet: Ja, im Grunde tun sie es.
Aber auch ohne diesen Kontext sind die Geschichten unterhaltsam. Einmal, weil sie im Gedächtnis bleiben. Und das vermutlich auch deswegen, weil sie zweitens inhaltlich über einen großen Ideenreichtum verfügen, bis hin zu leicht abgedrehten Szenarien. Hier sei „Ghul“ erwähnt, eine Geschichte über Menschen, die in einer Art unterirdischem Vergnügungspark Höllenszenarien aufführen, wobei die Ursprünge für dieses Szenario an „Fallout“ erinnern, also in irgendeiner Katastrophe begründet zu liegen scheinen, die die Menschheit zwang, sich in bunkerartige Gebilde zurückzuziehen. Um dort Hölle zu spielen. Oder so.
Noch deutlich über den Seltsamkeitsfaktor von „Ghul“ geht „Elliot Spencer“ hinaus, sowohl in inhaltlicher als auch stilistischer Hinsicht. Ich habe bis dato keine Ahnung, was Saunders mir mit dieser Geschichte sagen will und dementsprechend auch nicht das Gefühl, sie in irgendeiner Form verstanden zu haben. Nun muss aber wohl in einer ausreichenden Menge an Geschichte nahezu zwangsläufig eine dabei sein, mit der man etwas fremdelt. Halb so wild.
Neben der Einprägsamkeit und dem Ideenreichtum ist als drittes Kriterium für die Unterhaltsamkeit der Texte ganz unbedingt auch Saunders Stil zu erwähnen, und in dem Zusammenhang natürlich die Übersetzung von Frank Heibert, vor der ich mehr Hüte ziehen müsste als ich besitze. Denn neben Geschichten, die auch mal im einfachen, zuweilen derben Ton gehalten sind, etwa wenn sich zwei langsam älter werdende Damen auf der Straße begegnen, die sich schon vor Jahrzehnten nicht grün waren, enthält „Tage der Befreiung“ auch solche, die sich nicht sonderlich um vollständige bzw. korrekte Grammatik scheren oder eine Fülle an Saundersschen Neologismen enthalten, die zu übersetzen nun wirklich nicht einfach gewesen sein können.
Und so entsteht in Summe dann ein Band aus Geschichten, die vielleicht nicht den leichtesten aller möglichen hypothetischen Einstiege in die Welt der short stories darstellen, die aber sicherlich auch Leserinnen und Leser zufriedenstellen dürften, die es, wie ich, sonst nicht so mit dem Genre haben.
Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen
Von: Martina
Von: Victory_of_Books
Von: gosureviews
Von: Bookster HRO
Von: Stefan
Von: Franziska J
Von: Fraggle