Da klebt eine junge Frau auf der Straße. Nicht schon wieder. Die Stimmung heizt sich auf, der Stau wird länger. Aufruhr in der beschaulichen, denkmalgeschützten Lübecker Innenstadt. Die Polizei rückt an, die Beamten kennen das schon. Routiniert holen sie das Speiseöl aus dem Einsatzwagen. Die da auf dem Asphalt klebt, ist Luzie, 17 Jahre alt, eigentlich auf dem Weg nach Lützerath in Westdeutschland. Lützi bleibt! sagt der Sticker auf ihrem Hoodie. "Ein paar Autofahrer schreien etwas aus den geöffneten Wagenfenstern. »Verpiss dich!« ist noch eine der freundlicheren Äußerungen, die wie Steine auf das Mädchen einprasseln. »Der sollte man die Hand abhacken«, hört Annika auch. Ganz vorne brüllt einer: »Einfach überfahren, die Schlampe!«"
In ihrem Schreibwarenladen horcht Annika Oelkers auf den Tumult da draußen. Die Neugier treibt sie raus auf die Straße. Sie kennt das Mädchen, das da auf der Straße sitzt und ein Protestschild hochhält. Verdammt. Sie hat ihr gerade die zwei Tuben Sekundenkleber verkauft, die da jetzt wahrscheinlich ihren Dienst tun.
Und dann, um den Kalauer zu bemühen, geht in Annikas Leben die Luzie ab. Die gut situierte Frau Oelkers, in deren Leben es bis vor einer Stunde nichts Aufregenderes gegeben hat als die wöchentliche Chorprobe, findet sich erst auf der Straße neben der jungen Frau und dann folgerichtig auf dem Polizeirevier wieder. Und es beginnt ein Roadtrip, der die beiden von Lübeck über Hamburg bis nach Norditalien führt. Wie gut, dass Annika ihre Kreditkarte und das Handy dabeihat.
Der Text zerfällt mehrfach in Antinomien. Lübecker Gegenwart und Hamburger Vergangenheit. Luzies Zukunft und Annikas Vergangenheit. Annikas Außen- und ihr Innenleben. Manches geht rasend schnell, anderes wird elegisch zerkaut.
Langsam, nach und nach, erfahren die Leserinnen und Leser von Annikas Vergangenheit. Ihr Aufwachsen mit und ohne Mutter, ihre Freundschaften mit Milena und Matti, Pastor Wilms, die Zeit in der sagenhaften Hamburger Hafenstraße, ihr Schwiegervater, der alte Oelkers, ihr ewig geduldiger, Slowflower züchtender Ehemann Hendrik. Nach und nach fügen sich die Dinge zueinander. Am Ende der großen Demo für den Erhalt der Hafenstraße war Milena tot und die Umstände nicht geklärt. Seit dieser Zeit, seit fast 30 Jahren, macht Annika sich Vorwürfe. Das soll nun ein Ende finden.
Karin Burseg schreibt sprachlich routiniert. Für mein Empfinden sind die Lübecker Gegenwart und die Hamburger Hafenstraßen-Vergangenheit dramaturgisch nicht glaubhaft miteinander verbunden. Die Fallhöhe zwischen der einen und der anderen Welt ist zu groß. Annikas innerer Zwang, sich mit Luzie auf den Weg in diese Vergangenheit zu machen, scheint künstlich. "(...) auf einmal kann sie an nichts anderes mehr denken. Die Angst um Luzie füllt sie vollkommen aus, schnürt ihr die Kehle zu. Sie hat schon einmal versagt, damals bei Milena, (...) und sie muss etwas tun, um nicht durchzudrehen!" Es sieht aus, als ob die Autorin den Lübecker Teil vorgeschaltet hat, um sich selbst den Hafenstraßenteil zu erlauben. Schade, dieser Stoff hätte auch für sich 200 Seiten getragen.
Fazit: Lesen, aber nicht zu viel erwarten.
Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen
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