Identität besteht aus vielen kleinen Einzelteilen, so zahlreich und strahlend wie die Kerne eines Granatapfels. Identität ist fließend, sie verändert sich je nach Situation, nach Selbstwahrnehmung oder Sichtweise anderer Menschen auf einen selbst. Diese wesentliche Diskussion, die auf beeindruckende Weise in Niluafar Karkhiran Khozanis „Terafik“ angestoßen wird, bildet eins der Kernthemen in der Auseinandersetzung der Erzählerin mit ihrem bekannten Heimatland Deutschland und dem fremden Vaterland Iran.
Als Nilufar als erwachsene Frau im Jahr 2016 zum ersten Mal in ihrem Leben zu ihrer weitverzweigten, großen Familie nach Iran reist, wird sie mit Unbekanntem, mit Beschränkungen und Offenbarungen konfrontiert, die auch ganz persönliche, vergangene und aktuellere Erfahrungen aufreißen. Des Persischen kaum mächtig ist sie in Iran fast so abhängig wie ein Kind (und wird auch vielfach so behandelt), das von anderen, meist der fast gleichaltrigen Cousine, an die Hand genommen werden muss, um durch den typischen Teheraner „Terafik“ – Traffic – gelotst zu werden.
Iran ist für sie Überforderung und Zauber zugleich. Auf der einen Seite die massive Sprachlosigkeit, die auch das erzwungene Schweigen der Frauen versinnbildlicht, auf der anderen Seite die Wärme und Zuneigung, die Freude der Familienmitglieder denen sie begegnet und vor allem auch die Liebe derselben zu ihrem Land – ganz unabhängig von der politischen Lage – verbunden mit der beständigen Hoffnung auf eine besserer Zukunft.
„Terafik“ wirft einen Blick hinter aus deutscher Sicht hohe Mauern, entlarvt pointiert und durchaus plakativ und manchmal auch nah am Klischee Vorurteile und deutsches Überlegenheitsgehabe. Der Roman setzt sich mit den schmerzhaften Herausforderungen einer geteilten Identität auseinander: sowohl im Heimatland der Mutter wie auch dem des Vaters gehört Nilufar letztlich nicht „dazu“ – hier sie muss sich ihren Platz beständig selbst erobern, für sich selbst definieren, dort kennt sie sich nicht aus und muss geleitet werden. Ihr Weg durch diese verschachtelten Identitätsmuster (nicht umsonst nimmt der Roman immer wieder das Bild der orientalischen Ornamente auf), wird an die Aufarbeitung des Lebens ihres Vaters gebunden, der sich immer zu Deutschland hingezogen fühlt, aber letztlich an ihm gescheitert ist. Nilufar begegnet ihrem Vater über weite Strecken mit liebevoller Nachsicht, versucht die Sprachlosigkeit zu überwinden, die ebenfalls auch dadurch bedingt wird, dass ihr Vater nur gebrochen Deutsch spricht, während sie seine Sprache nur schlecht versteht.
„Terafik“ berührt auf einer ganz eigenen Ebene. Mich hat es mitgenommen zu Menschen, die in ihrem Herzen Wärme und Optimismus tragen, auf bessere Zeiten hoffen, das Leben so annehmen, wie es sich ihnen bietet, die sich streiten, nicht miteinander reden, aber durch Tradition und Familie zusammengehalten werden. Auch wenn ein großer Reiz des Romans sicher in der Autofiktionalität des Textes besteht, funktioniert die Geschichte auch ohne die Berücksichtigung dieser Komponente. Der Autorin gelingt es trotz einiger inhaltlicher Wiederholungen, einen mitreißenden und überzeugenden Einblick auf ihre eigene (Identitäts-)Reise zu gewähren. Als Leser geht man mit der veränderten und gereiften Nilufar sehr bereichert aus der Lektüre des Romans hervor und besitzt hoffentlich anschließend zumindest ein bisschen mehr Verständnis und Einsicht. „Terafik“ hallt nach. Ich für meinen Teil denke auf jeden Fall wie Nilufar oft an die Wüste.
Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen
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