Juli Zehs neuer Roman „Über Menschen“ ist denkbar nah an der Gegenwart, denn wir befinden uns im Frühjahr 2020. Erst seit kurzem also ist klar, dass dieses Virus, das weit weg, in China nämlich, die Menschen in Aufruhr versetzt, eben keine rein chinesische oder asiatische Sache bleiben wird, sondern dass wir genauso davon betroffen sind und mit uns die ganze Welt. Es ist die erste Welle, der erste Lockdown, in dem der Roman spielt und seine Hauptfigur, Werbetexterin Dora, ist gerade aus Berlin nach Brandenburg in das Dorf Bracken gezogen.
Dora ist ca. Mitte 30 und in Berlin hat sie mit Robert zusammengelebt. Ihre Beziehung ist lange glücklich. Als Corona kommt, verändert sich Robert: Er hat früher als die meisten verstanden, was auch auf Deutschland zukommen würde. Er ist sehr vorsichtig und beginnt, Dora Vorschriften zu machen und sie zu kontrollieren. Die Enge, die Dora nun spürt, die großzügige Altbauwohnung, die plötzlich kleiner und kleiner wird, das gespannte Verhältnis zu Robert und eine generelle Ruhelosigkeit führen dazu, dass Dora recht spontan ein heruntergekommenes Haus in Brandenburg kauft und dann mit ihrer Hündin dort einzieht.
Doras Nachbar Gote stellt sich ihr mit den Worten „Ich bin hier der Dorfnazi“ vor, und natürlich will Dora mit so einem nichts zu tun haben. Vielmehr gefällt ihr das gar nicht, dass sie direkt neben ihm wohnen soll. Doch Gote hilft Dora bei Alltäglichem, einfach, weil er das selbstverständlich findet. In seiner Welt sind seine Überzeugungen in sich schlüssig und vernünftig, das wird im Laufe des Romans deutlich.
Ich habe in den letzten Tagen und Wochen, seitdem „Über Menschen“ erschienen ist, einige euphorische Besprechungen und Meinungen zu dem Roman gelesen. Zeh halte uns den Spiegel vor, gehe dort hin, wo es unbequem ist, zwinge uns, unsere festgefahrenen Überzeugungen zu überdenken. Das ist alles richtig, ist mir insgesamt aber zu wenig. Zunächst einmal wurde ich mit „Über Menschen“ aus dem profanen Grund nicht warm, dass es mir schlicht zu früh ist, etwas zu lesen, das während der Pandemie spielt, in der wir uns noch befinden. Anfangs habe ich das Buch mehrfach allein deshalb zur Seite gelegt. Für mich ist der Zeitpunkt für diese Geschichte einfach noch nicht gekommen, aber das ist ja eine ganz persönliche Sache.
Vor allem aber empfinde ich die Botschaft, die ich aus der Geschichte herauslese, nämlich, dass alles weniger schwarz-weiß ist, als es uns bewusst ist und dass auch Neonazis und AfD-Wähler im Grunde nette Menschen sein können oder sich zumindest nicht zwingend ununterbrochen wie Arschlöcher verhalten, als weniger bahnbrechend als es mir hier verkauft wird. Natürlich stimmt es, dass die wenigsten von uns Lust haben, sich mit denen, die anderer Meinung sind, überhaupt auseinanderzusetzen, und ist uns nicht auch bewusst, dass uns das eher weiter auseinander treibt als eint? Es ist gut und richtig, dass "Über Menschen" daran erinnert, und dazu einlädt, über den berühmten Tellerrand zu blicken, den ganzen Roman trägt das für mein Empfinden über 400 Seiten aber nicht.
Über weite Strecken empfand ich „Über Menschen“ als zu wenig stringent, oftmals wiederholen sich auch Ausführungen zu Doras Gemütszustand, zu ihren Gedanken und Gefühlen, hier verlor der Roman für mich oft an Drive. Gut gelungen sind die Dialoge, die vor allem dazu dienen, die Figuren zu charakterisieren, wenn sie auch alle etwas schablonenhaft bleiben. Und ja, ich mochte durchaus, wie Gote dargestellt wird und auch Doras Reaktionen auf den ruppigen Nachbarn, ihren Widerwillen, der mit der Zeit immer mehr ins Wanken gerät. Der Roman lässt sich flott lesen und unterhält dabei durchaus auch. Die Hündin „Jochen der Rochen“ zu nennen und dem Fahrrad den Namen „Gustav“ zu geben, diese Einfälle hätte es für mich jedoch nicht gebraucht und sie wirken auf mich ein wenig verstaubt.
Wahrscheinlich passen Juli Zehs Romane und ich einfach nicht mehr zusammen. Es ist lange her, dass ich eins ihrer Bücher uneingeschränkt gemocht habe. Ich weiß, dass es vielen anders geht, dass sie offenbar oft einen Nerv trifft und ich kann das auch nachvollziehen. Mein Urteil zu ihrem neuesten Roman fällt gemischt aus. „Über Menschen“ liest sich schnell und unterhaltsam, man findet rasch Zugang zu dem erzählten Kosmos, doch insgesamt konnte der Roman zumindest mich nur teilweise überzeugen.
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