Bei den großen Werken der Literatur oder bei tiefschürftenden philosophischen Betrachtungen würde der Leser diese Frage, ohne zu zögern, sicher bejahen.Bei einem Unterhaltungsroman belächelt er eher diesen Anspruch.
Es ist dieses Zitat, dass die Begegnung mit einem Buch ein Leben verändern könnte, dass die zwei Handlungsebenen des Romans zusammenbringt: Das ist einmal die Gegenwart, Hamburg um 2019, Nele, die ihrem Vater zuliebe dessen Buchhandlung nach seinem zu frühen Tod weiterführt, und überlegt, ihrem neuen Freund zuliebe nach München zu ziehen.
Und da ist die Vergangenheit, Hamburg in den 30er und 40er Jahren, Lilo, die ihren Eltern zuliebe das BDM-Mädel wird, das ihrem Schwarm Ludwig zuliebe nachts zum Swinggirl mutiert, und die später ihrer unehelichen Tochter aus dem Verhältnis mit Ludwig zuliebe, in einer merkwürdig anmutenden Gemeinschaft mit deren „zweiter Mutter“ zusammenlebt. Wie es dazu kommt erfährt der Leser aus einem Manuskript Lilos, das ihre Tochter, Kundin in dem Buchladen Neles, dieser zum Lesen überlässt.
Auf einer Tanzveranstaltung aufgegriffen, gerät Lilo, bereits unehelich schwanger, in die Fänge des SS-Sturmbannführers Werner, einst Patenkind ihres Vaters, der sie „rettet“, um sie in einem Lebensborn-Heim für unehelich Schwangere unterzubringen. Enttäuscht, dass sie sich ihm nicht hingeben will, sorgt er dafür, dass ihr Kind zur Adoption freigegeben wird und bei Helene, der „zweiten Mutter“, landet,, von wo Lilo sie zurückholen will.
Damit haben wir gut gemachte Unterhaltung, die die verschiedenen Zeitebenen verbindet und dabei interessante Themen streift, die nicht immer leicht zu verdauen sind: die Gewalt gegen Andersdenkende im Dritten Reich, die sich hier gegen fast noch Kinder richtet,- und das moralisch abstoßende Projekt Lebensborn, das aus Menschen Zuchtmaterial macht. Dagegen wirken die Probleme Neles fast schon banal-modern. Hier geht es weniger um das eigene Überleben als vielmehr um die Frage nach der Selbstverwirklichung.
Die Figuren sind ein wenig klischeemäßig auf „Gut“ und „Böse“ verteilt, auch wenn teilweise der Anschein von Ambivalenz aufrecht erhalten werden soll, wie z. B. im Falle Lilos, die zwischen bravem BDM-Mädel und Swing-Vamp bzw. zwischen Opfer und Täterin, Entführerin ihres eigenen Kindes, schwankt, oder Ludwig, des Kindsvaters, der vorgibt, Lilo nicht zu lieben und nur benutzt zu haben, sie dann aber doch liebt. Ganz Klischee ist der vermeintliche „Retter“ von Lilo, Werner. Er ist nicht nur durch sein vernarbtes Gesicht physisch abstoßend, sondern auch in seiner Position der Macht, mit der er sich zu nehmen versucht, was er ansonsten nie zu bekommen träumen dürfte. Bisweilen ist es dann doch ein wenig zu überdramatisiert, wenn Ludwig sich zwischen Coolness und Verführbarkeit nicht entscheiden kann, oder Werner erst um Liebe bettelt, bevor er Lilo dann brutal zusammenschlägt und ihr dabei die Rippen bricht.
Aber zurück zur Ausgangsfrage: Das Leben verändert die Lektüre dieses Buches eher nicht. Dennoch lässt es einen darüber nachdenken, inwiefern das eigene Leben Fremd- oder eigenen Ansprüchen genüge leistet. Hier wird der Roman auf der Ebene der Vergangenheit durchaus interessant, da Lilo erkennt, dass sie in ihrem Leben häufig keine eigene Position bezogen und sich in eine Rolle gefügt hat, die von ihr erwartet wurde. Und so scheint sie auch ihr weiteres Leben einem Kompromiss zu opfern: sie fügt sich in das Schicksal, dass ihre Tochter zwei Mütter haben wird und dass sie mit dieser „zweiten Mutter“ ihr weiteres Leben teilen wird. Allerdings ist es diesmal ein Entschluss, den sie für sich gefasst hat. Nele hingegen schafft es am Ende, sich auf den Weg zu machen und sich von emotionalen Abhängigkeiten zu lösen. Und damit bleibt auch beim Leser etwas, was vielleicht in seinem Leben für einen Nachhall sorgen kann: das Gefühl von Freiheit, das Nele am Ende hat.
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