Wir hätten uns alles gesagt von Judith Hermann

Judith Hermann Wir hätten uns alles gesagt

»Ich schreibe am eigenen Leben entlang,
ein anderes Schreiben kenne ich nicht.«

Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis – wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit.

Wie in ihren Romanen und Erzählungen fängt Judith Hermann ein ganzes Lebensgefühl ein: Mit klarer poetischer Stimme erzählt sie von der empfindsamen Mitte des Lebens, von Freundschaft, Aufbruch und Freiheit.

»Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse« Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung

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Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen

  • Von: Marina Büttner

    Nach dem bemerkenswerten Roman „Daheim“ aus dem Jahr 2021 hat der S. Fischer Verlag nun auch die Frankfurter Poetikvorlesungen von Judith Hermann herausgegeben. Hier erzählt sie über ihr Schreiben, das auch immer mit der eigenen Biografie zu tun hat. Es geht um die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, um das Erzählen, das Erfinden von Geschichten, oft als verfremdete eigene Lebensereignisse. Wie schon beim letzten Roman habe ich auch hier das Hörbuch gewählt, weil ich ihre Stimme, ihre Art vorzulesen so liebe. Vier Stunden sind es, es hätten gerne noch mehr sein dürfen. Besonders gefällt mir auch das Coverbild. Zudem entdeckte ich in den Büchern, die ich von ihr hier stehen habe, dass ich zwei signierte Exemplare besitze. Die Lesung, die ich vor vielen vielen Jahren beim Erfurter Bücherherbst besuchte, hatte ich fast vergessen. „Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“ Ich bewundere Judith Hermann für ihre Offenheit, für das Private, das sie mitteilt, nie voyeuristisch, jedoch wunderbar in Literatur zu verwandeln weiß. Gleichzeitig lässt sie uns immer in Unsicherheit über den Anteil an Fiktion in ihren Texten. Das Buch lässt sich als Roman lesen, als würde alles, was sie zu erzählen weiß in eine lesbare Form gleiten. So begegnet die echte(?) Judith Hermann ihrem ehemaligen Psychoanalytiker zufällig in einem Spätkauf in Berlin, in dem sie an einem fortgeschrittenen Abend mit einem Freund steht, um Zigaretten zu kaufen. Sie folgt ihm in die Bar, in die er verschwindet und die beiden kommen ins Gespräch. Sie reden über das, was in der Analyse nie gesagt wurde. Immerhin viele Jahre lag sie 3x wöchentlich auf seiner Couch. Und er als klassischer Freud`scher Analytiker saß am Kopfende und sagte fast nichts – viele Jahre lang. Hermann weiß, dass es letztlich darum geht, die Fragen, die man sich oder ihm stellt, nach und nach selbst beantworten zu können. Es geht ums freie Assoziieren, ums „laute“ Denken. Tatsächlich ist es eine sehr ausführliche andauernde Selbsterforschung, die erstaunlich viel bringen kann. Wir erfahren dabei, wie sie ihr half weiter zu schreiben (weiter zu leben), als es sehr schwierig war. Wir erfahren von ihrer langjährigen Bekannten, die ihr den Therapeuten empfohlen hatte und wie letztlich eine Erzählung im Band „Lettipark“ durch beide entstehen konnte. Da ich diese Erzählungen nicht kannte, habe ich mir gleich noch das Hörbuch aus der Bibliothek als Ergänzung angehört. Im weiteren Verlauf wird mir klar, weshalb diese langjährige Analyse so notwendig war. Vieles, was (die echte?)Judith Hermann aus ihrer Kindheit, aus ihrer Familie erzählt, kommt mir sehr bekannt vor. Dysfunktional könnte man es nennen. Es besteht eine Enge, keine Fröhlichkeit ist erlaubt, keine Offenheit nach außen, keine Schulkameraden dürfen mit nach Hause gebracht werden. Wie oft habe ich genau diesen Satz in einer Abwandlung („Vögel, die morgens pfeifen …“) gehört, den Judith Hermanns Großmutter ebenfalls aussprach: „Wer am Morgen singt, den holt abends die Katze“. Die Wohnung dem riesigen Puppenhaus ähnelnd, das der Vater der Tochter baute. Die ängstlichen Kinderträume. Der unzuverlässige Vater, der später lange Zeit in der Psychiatrie lebte. Die Mutter, die arbeiten geht, die Großmütter, die sich um das Kind kümmerten. Es ist die Kriegsenkelgeneration, zu der ich auch gehöre. „Für das Wort Glück, musste Gott um Verzeihung gebeten werden.“ Und immer wieder die Freundin Ada, das Rudel drumherum, die Wahlfamilie, mit der sie als junge Frau im Sommer immer wieder an die Nordsee in das ererbte Haus fährt. Das freie wilde Leben mit den Kindern und Freunden, eine große Patchworkfamilie. Sie erzählt von Marco, dem besonderen Cliquenmitglied, dessen Tod als noch junger Mann. Das Auseinanderdriften nach und nach. Die erste eigene Familie, dann die zweite. Von der riesigen übervollen elterlichen Wohnung der Eltern in Neukölln nach Prenzlauer Berg. Die schweren Zeiten, die es durchzustehen gilt. Und dann natürlich das Schreiben. Wie und weshalb entstehen die Geschichten? Wie werden sie zu literarischen Erzählungen? Was ist der essentielle Satz darin, um den sich alles dreht? Was muss verborgen bleiben, verschwiegen werden, damit die Story funktioniert? Hier empfinde ich Judith Hermann als höchst authentisch, als bei der eigenen Art bleibend, mitunter gar als schreibend gegen die Moden und den Mainstream. „Jede Geschichte hat ihren ersten Satz, nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf etwas hin oder von etwas weg. Aber meist ist es ein Satz, den jemand zu jemandem sagt. Ich höre diesen Satz und das Hören ist begleitet von einer nur Sekunden langen aber eindeutigen und unmittelbaren körperlichen Empfindung, ein Erschauern, Vorahnung, eine Gänsehaut.“ Schließlich auch eine neue Beziehung. Eine Beziehung, obwohl das sich öffnen, das Vertrauen so schwer fällt. Hier gehört auch der Satz hin, der den Titel des Buches bildet. Welche Ausnahmesituation braucht es, damit „wir hätten uns alles gesagt“ passieren kann. Judith Hermann kommt im Erzählen vom Hundertsten ins Tausendste ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Sie zeichnet die Nebenschauplätze genauso, wie die Hauptfiguren. Ihre Figuren sehnen sich nach den „Verstehst du, was ich sagen wollte“-Momenten, die ich nur allzu gut kenne und die so selten auf Resonanz treffen. „Jede Geschichte ist eine rückläufige Bewegung auf einen Anfang zu, Schichtung um ein Zentrum. Nicht nur die eigenen sondern auch die der anderen, viel mehr wohl die Geschichten der Anderen, die ich lese, um aus ihnen heraus auf meine eigene Stimme zu kommen, die ohne die Stimme der anderen aber gar nicht hörbar wäre.“ Von der ersten Kurzgeschichte, die mit einem Stipendium in Wewelsfleth im Günter-Grass-Haus entstand, über den ersten Erzählband „Sommerhaus später“ bis zum ersten Roman und immer weiter bis zu „Daheim“ und bis zu den Frankfurter Poetikvorlesungen. Ein Werdegang. Ein Heranreifen, ohne je das eigene, besondere aufzugeben, so empfinde ich es. Und ich habe von Anfang an mitgelesen. Ich empfehle jedes Buch von Judith Hermann, dieses ganz besonders und freue mich schon auf das nächste. Ein Leuchten!