Autorin
Dörte Hansen, geboren 1964, ist Linguistin und gelernte Journalistin. Ihr Debüt „Altes Land“ erschien 2015 und war ein Sensationserfolg, der wochenlang auf der Bestsellerliste zu finden war. Der nachfolgende Roman „Mittagsstunde“ erschienen 2018, wurde ebenso ein großer Erfolg und verfilmt. Nun ist ihr dritter Roman „Zur See“ herausgekommen. Auch dieser Roman handelt vom Verschwinden und Zerfall einer Welt. Diesmal steht die Gemeinschaft der Inselmenschen und Seefahrer im Blickpunkt.
Inhalt
Der Ort der Handlung ist eine beschauliche Insel irgendwo zwischen Jütland, Friesland oder Zeeland. Hier lebt seit mehreren Generationen die Familie Sander, allerdings schon lange nicht mehr einträchtig miteinander. Hanne und Jens Sander haben drei Kinder. Jens Sander hat seine Familie und die Seefahrt aufgegeben. Er lebt abgeschieden als Vogelwart im letzten unberührten Gebiet der Insel. Sohn Ryckmer Sander verlor sein Kapitänspatent und trudelt als Alkoholiker durch sein Leben. Tochter Eske arbeitet in einem Seniorenheim. Sie nimmt die Touristenströme auf ihrer Insel als störende Belagerung wahr. Nur Henrik, der jüngste Mann der Familie Sander, scheint mit seinem Leben zufrieden zu sein, verspürte nie den Wunsch, zur See fahren zu müssen. Er lebt am Strand, sammelt Treibgut und fügt dieses als Kunstwerk für Touristen zusammen.
Innerhalb eines Jahres ändert sich das Leben auf der Insel fast lautlos.
Sprache und Stil
Im Mittelpunkt steht die Familie Sander, jede Person einzeln für sich. Hinzu kommt der Pfarrer,„der Pyrotechniker des Herrn“, mit seinen Problemen.
Ryckmer, eine der Hauptfiguren im Roman, ist zugleich die tragischste Gestalt. Zunächst ist er Seemann, der Angst vor der See hat. Genau die Angst vor dem Wasser ist sein Schicksal. Doch er führt die Familientradition fort. Bis er mit seinem Schiff in eine Monsterwelle gerät und seine Angst hinausschreit. Danach ist er nicht mehr der Mann, der funktioniert. Seit jenem Erlebnis säuft sich Ryckmer konsequent herab von der „Kommandobrücke eines Tankers auf einem Nordseependelkahn“.
„Vom Kapitän auf großer Fahrt zum Deckmann, der auf einer Inselfähre durch das Küstenwasser schippert und noch ein bisschen Seebär für die Touristen spielt, die sich von ihm scheuchen lassen.“ (S. 13)
Seine Schwester Eske hat einmal versucht, die Insel zu verlassen und damit auch der Familie zu entkommen, doch das Heimweh treibt sie zurück. Sie findet auf der Insel eine Stelle als Altenpflegerin. Eske beherrscht eine der Nordseesprachen und findet Zugang zum Archiv für Nordseesprachen. Mit ihrem Mentor Flemming Jespersen freundet sie sich an und unterstützt ihn bei der Digitalisierung alter Gedichte und Lieder von schon längst Verstorbenen. Dieses Wissen nutzt sie bei Gesprächen mit den Alten, deren Geschichten sie aufschreibt, um deren Sprache vor dem Vergessen zu bewahren.
„Sie hörte alte Tonaufnahmen ab und wusste, dass die meisten, die auf diesen Bändern sprachen, ihre Lieder sangen und Gedichte aufsagten, schon längst verstorben waren. In den Zettelkästen fand sie Worte, die sie fast vergessen hatte […].“ (S. 165)
Touristen sind bei ihr nicht willkommen. Als Kinder müssen sie und ihre Geschwister immer ihre Zimmer räumen, um Platz für die „Gäste“ zu schaffen. Ihre Mutter hat dann keine Zeit mehr für ihre Kinder. Den radikalen Autofahrerstil ihrer Mutter hat sie übernommen. Ihre Fernbeziehung Freya vom Festland sieht sie nicht so häufig.
Henrik, der Jüngste, sammelt Strandgut, baut daraus Figuren und ist mit seinen Werken in der Kunstszene bekannt. Er ist zufrieden, auch wenn seine Familie mit ihm wenig anzufangen weiß.
„Aus seinem Treibgut baut er seltsame Gestalten, Wassergeister, Meeresdrachen, Schwemmholzengel, Seegespenster, die die Insel mittlerweile wie ein eigener Stamm bevölkern.“ (S. 39)
Hannes Mann Jens zog vor zwanzig Jahren ins Vogelschutzgebiet und lebt dort wie ein Eremit. Doch nun ist er plötzlich wieder zurückgekehrt.
„Zwanzig Jahre miteinander, zwanzig Jahre auseinander. Jetzt wieder miteinander. Nicht der Rede wert.“ (S. 205)
Eine Nebenfigur in Dörte Hansens Roman „Zur See“ ist der Inselpfarrer, der aus dem Gleichgewicht gerät, als im Gästebuch der Kirche in grüner Schrift Verhöhnungen seiner Person und Predigen geschrieben stehen.
„Dieser Pastor glaubt doch selbst nicht, was er hier von Sand und Salz zusammenpredigt. Was für ein Blender.“ (S. 121)
Seine täglichen Aufgaben für die Gemeinde, den Eingesessenen gleichermaßen Impulsgeber und Ideenspender als auch Wegbegleiter und Ansprechpartner für so gut wie alle Belange zu sein, muss er mit einer flüchtigen, oberflächlichen zweiten Gemeinde den Nicht-Eingesessenen teilen. Er fühlt sich ausgelaugt und fragt sich nach der Saison, wie er beides schaffen soll.
Nicht nur die Inselbewohner verlieren ihre Orientierung im Wandel der Zeit, sondern auch die Wale. Jens Sander entdeckt den gestrandeten Wal. Doch mehr als die Gase mit einem Messer aus seinem toten Körper zu lassen, kann er nicht tun. Das Innere des Wals ist vermüllt mit Plastikteilen und Fischernetzen. Dörte Hansen zeichnet deutlich mit dem toten Wal den Umgang der Menschen mit der Natur.
Die Autorin ist eine gute Beobachterin der heutigen Inselleute, die das Erbe ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern weiterleben. Sie verfolgt die Spuren mit der Frage, ob es den Inselmann oder die Inselfrau noch gibt oder je gegeben hat. Vielleicht sind es Mythen, weil wir Geschichten gerne hören.
Wie eine Geschichte ist der Roman aufgebaut, als ob an einer Kaffeetafel Menschen zusammensitzen und sich über die Vergangenheit, Veränderungen und Zukunft ihrer Insel unterhalten.
In ihrem Buch „Zur See“ spricht Hansen in der dritten Person. Sie schildert brillant flüssig, mit freundlich-mildem, etwas mitleidigem Spott. Es bleibt ein Hauch von Klischee, ohne in nostalgisches Wehleiden abzudriften. Bisweilen melancholisch, deckt sie das Spektrum zwischen Verlust und Befreiung ab. Nöte und Sorgen zeigt sie ohne große Dialoge oder Erklärungen.
Fazit
„Zur See“ lässt plastisch tief in die Seele der Inselbewohner schauen, in deren Leben Veränderungen deutliche Spuren hinterlassen. Mit dem Roman bietet Dörte Hansen uns ein Brennglas, durch das sie die Inselgesellschaft mit all ihren Facetten sichtbar macht. Ihre individuellen Probleme wie Sucht, fehlende Zuwendung, Einsamkeit und Auseinanderleben bewegen sich wie eine Welle der Hilflosigkeit, die oftmals mit einem Schlingern im Sturm auf hoher See endet.
„Ich wusste, dass ich für diesen Roman einen bestimmten Sound brauche, eine bestimmte Tonart, um diesen Stoff zu erzählen, und daran habe ich sehr, sehr lange gearbeitet“, sagt Hansen. „Das war wirklich schwer, diesen Ton zu finden, das ging durch sehr viel Ausprobieren, sehr viel Umschreiben, sehr viel laut lesen und rhythmisch nochmal drübergehen. Also, es war ein hartes Stück Arbeit, bis ich diesen Ton hatte, der für mich zu dieser Geschichte gehört.“
Quelle: Sabine Zapplin in: https://www.br.de/nachrichten/kultur/doerte-hansen-roman-zur-see-ueber-das-inselleben,TIiXog0, aufgerufen: 23.10.2022.
Der Sound ist gelungen.
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