Welche Grenzen würden wir überschreiten?
Wenn nicht noch etwas sensationelles passiert in diesem Jahr, dann kann ich an dieser Stelle behauten, dass ich mein Sachbuch 2024 gerade abgeschlossen habe. Schon nach der Vorstellung (und Begeisterung) von Denis Scheck, dessen Meinung ich oft so gut nachvollziehen kann – war mir klar - dass „Der Untergang der Wager“ ein mehr als passendes Buch für mich sein würde. Nun, nachdem ich das Buch in ca. 5 Tagen „durchgesuchtet“ habe, sitze ich hier und würde es am liebsten sofort noch einmal von vorne beginnen. Es gibt Geschichten, die sich kein Drehbuchautor erdenken könnte – es gib Geschichten, die nur das Leben, Zufall, Gott oder was es ist, schreiben kann (das dachte wohl auch Martin Scorsese, der das Buch als Film mit Leonardo DiCaprio im nächsten Jahr in die Kinos bringen wird). Hätte ein Drehbuchautor dies erdacht, so hätte er schwarz-weiß, vielleicht etwas grau schattierte Charaktere entworfen. In diesem Buch aber ist die gesamte Vielfalt menschlicher, zeitweise in sich widersprüchlicher, Charakter und ihrer Reaktionen, die sich in den Extremsituationen des Lebens nicht mehr verstecken lässt, so wunderbar klar. Es ging um Leben und Tod für die Besatzung der Wager! Wie würden wir reagieren? Wo wären unsere Grenzen? Welche würden wir überschreiten? Würden wir meutern gegen die Macht? Würden wir töten?
Eine dramatische Geschichte von Lüge, Verrat, Meuterei, Zufällen und menschlichen Schwächen und vor allem ein Kampf für jeden einzelnen ums Überleben.
Für die, die Menschen verstehen und über Menschen lernen wollen!
David Grann hat ein fast übermenschliches Werk geschaffen, in dem er fabelhaft akribisch und umfassend recherchiert hat und uns nicht nur ein Geschichtsbuch präsentiert, sondern uns in eine wahre Geschichte der einstigen Welt des 18. Jahrhunderts, die wie ein Abenteuerroman ist, hineinzieht. Ein Buch, das nicht nur für Geschichtsfreaks ist! Nein, ein Buch für alle, die beim Lesen in ferne Welten getragen werden möchten und die viel über Menschen lernen und verstehen möchten.
Grann ist aber vor allem ein grandioser Erzähler! Seite für Seite lernen wir zu Beginn des Buches fast schon persönlich die Protagonisten kennen, die auf verheerende Weise in der auch immer weiter aufheizenden Extremsituation der Mission, in Macht und Ohnmacht, sämtliche Masken des sozialen Verhaltens fallen lassen werden. Ein Schicksal aus "Not, Zwist, Hunger, Tod und Zerstörung".
Autorität entsteht, wenn Rang, Charisma und Wissen zusammentreffen. Aber was geschieht mit einer sozialen Gruppe in einer lebensbedrohlichen Extremsituation, wenn diese Aspekte nicht bei einer Person liegen? Wenn Fehlentscheidungen der Autorität offensichtlich werden? Man merkt, wie die Besatzung auf eine Führung durch Vertrauen, Verständnis und Inspiration hoffte und Despoten, Tyrannen in den Offiziersreihen fürchtet.
Klar ist, dass es selbst für geringe Verfehlungen, wie auch Kritik, schon diakonischen Strafen gab.
Die Logik des menschlichen Untergangs
Bei der Darstellung der dramatischen Geschichte, gibt Grann dem Leser auch die Möglichkeit die Funktionen an Bord eines Kriegsschiffs im 18. Jahrhundert zu verstehen. Denn man musste nicht nur wissen, wie man seine Bewaffnung einsetze, sondern auch ein Gefühl dafür erlangen, wann man bei einem durch Wind und Wellen ständig in Bewegung befindlichen Schiff diese einsetzte. Wir lernen aber auch das Netz der sozialen Klassen, Hackordnungen, Abgrenzungen, Verwobenheit und Abhängigkeiten zwischen allen Mitgliedern der Besatzung kennen.
Ein weiterer Höhepunkt des erzählerischen Könnens Granns ist die faktische Zusammenstellung, was die ungezügelten, todbringen Naturkräfte des Meeres am Kap Horn für Konsequenzen haben. Allein diese Darstellung zeigt die wahnsinnige Angst, die die Gewalten bei den Matrosen ausgelöst haben müssen. Ein nicht endender Höllenritt durch Dantes Inferno. Was macht dies mit Menschen?
Tiefste Einblicke über die menschliche Psyche erhalten wir, wenn es zur Meuterei kommt. David Grann schafft es, uns diese Handlungen bei jedem der führenden Besatzungsmitglieder in seiner Logik zu erklären. Wir schauen quasi zu, wie es zum Untergang des menschlichen Miteinanders kommt und sind uns bewusst, dass jeder aus seiner Perspektive nicht anders handeln kann. Das ist nicht nur Geschichtsschreibung, das ist Psychologie.
Thema des Buches ist aber nicht nur die besondere Geschichte der Menschen auf der Wager, sondern auch die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs und somit der öffentlichen Darstellungen der Vorkommnisse in jener Zeit und die (etwas seltsame) juristische Aufarbeitung bei der Navy in England. Letztlich erfahren wir auch, aus welchen banalen Gründen Kriege durchgeführt wurden.
Leserstimmen Das sagen andere LeserInnen
Von: Textopfer
Von: JosefineS
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Von: Wolfgang Brunner für Buchwelten
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