Katharina Schlüter (48), bekannt als engagierte und renommierte Fernsehjournalistin, steht als Klägerin vor einem Berliner Landgericht. Sie bezichtigt ihren ehemaligen Geliebten, Dr. Christian Thiede (59), zur Zeit der Tat Vorstandsvorsitzender eines großen Konzerns, der Vergewaltigung.
Beide lernen sich im Rahmen einer von Katharina Schlüter moderierten
TV-Sendung kennen, an der Thiede als Gast teilnimmt. Ca. einen Monat danach nimmt sie seine Einladung zu einem gemeinsamen Mittagessen an, verliebt sich in ihn, und beide beginnen eine 4 Jahre dauernde Affäre, die laut ihrer Aussage immer inniger wird. Ihre nahezu wöchentlichen Zusammenkünfte finden stets in Hotels statt.
Da beide verheiratet sind und Kinder haben, müssen sie ihre Familien laufend belügen. Diese Situation wird für sie zwar immer belastender, sie haben aber nicht den Mut, ihre Ehepartner zu verlassen.
Nach einem wie immer intensiven Beisammensein beenden sie daher ihre Affäre: einvernehmlich, wie Katharina Schlüter sagt, auf seine Initiative hin, wie Christian Thiede später zu Protokoll geben wird.
Obwohl sie sehr unter der Trennung leidet, haben Schlüter und Thiede keinerlei Kontakt mehr, bis es nach 4 Monaten zu einem zufälligen Treffen auf der Straße kommt. Sie geht mit Thiede in seine Wohnung, die alte Anziehung ist sofort wieder da, es kommt zu zunächst einvernehmlichem Geschlechts-verkehr, bei dem sie aktiv mitmacht. Erst nachdem er bereits in sie eingedrungen ist, wird ihr, laut Aussage klar, dass es falsch sei, dass sie nicht noch einmal unter einer erneuten Trennung von ihm so leiden wolle. Sie fordert ihn mehrmals vergeblich auf, aufzuhören, aber erst im Moment der Ejakulation gelingt es ihr, ihn von sich zu stoßen.
Drei Tage später zeigt sie Thiede wegen Vergewaltigung bei der Polizei an.
Während des gesamten Prozesses schweigt Christian Thiede; ganz am Schluss jedoch entschließt er sich überraschend zu einer Aussage, in der
er vor allem den Sex in seiner Wohnung komplett anders schildert.
Und auch von seiner Noch-Ehefrau, mit der er in Scheidung lebt, gibt es eine unerwartete Aussage.
Ergo: Das Gericht muss erneut in die Beweisaufnahme gehen - es ist wieder alles offen.
Resümee:
Ferdinand von Schirach ist Autor und Jurist, der u.a. als Strafverteidiger in den Berliner Mauerschützenprozessen bekannt geworden ist. Dieses ist sein 4. Theaterstück, das sich unter dem Aspekt der Urteilsfindung mit dem Thema Vergewaltigung auseinandersetzt. Bei Gericht steht dabei oft Aussage gegen Aussage, und nur die Beteiligten wissen, was wirklich geschehen ist.
In diesem Theaterstück herrscht folgende Situation:
Sie (Katharina Schlüter) sagt: Christian Thiede hat mich vergewaltigt.
Er (Christian Thiede) sagt: bis zum Ende des Prozesses nichts, entschließt sich aber dann spontan zu einer Aussage, die von der seiner Ex-Geliebten extrem abweicht.
Basis für die Urteilsfindung an diesem Strafprozesstag ist also die Aussage des mutmaßlichen Vergewaltigungsopfers Katharina Schlüter, in der es zunächst um Beginn, Verlauf und Ende der Beziehung zu dem Angeklagten Christian Thiede geht.
Es folgt dann ihre Schilderung der Ereignisse in seiner Wohnung 4 Monate später nach einem zufälligen Treffen, in deren Folge sie ihn nach 3 Tagen wegen Vergewaltigung anzeigt.
Dabei wirft die Aussage des mutmaßlichen Opfers viele Fragen auf, vor allem folgende:
. Handelt es sich im rechtlichen Sinne um eine Vergewaltigung? Das heißt, ist der zunächst absolut einvernehmliche Geschlechtsverkehr in eine Vergewaltigung übergegangen, als Thiede kurz vor der Ejakulation, als sein Penis bereits in ihr war, das mehrmalige Nein seiner bis dahin aktiv beteiligten Ex-Geliebten ignorierte?
Die Klägerin gibt selbst zu Protokoll, den Sex anfangs gewollt zu haben, sich daher nicht sicher zu sein, ob sie nicht auch schuld habe, ob es falsch war, mit ihm ins Bett zu gehen, wo dann bei ihr plötzlich „ein Schalter umgelegt“ wurde.
. Welches ist also das Motiv für ihre Anzeige des Mannes, mit dem sie 4 Jahre lang eine angeblich innige Beziehung hatte, zu dem sie bei dem zufälligen Treffen 4 Monate nach deren Ende sofort wieder die alte Anziehung gespürt hat?
Späte Rache wegen verletzter Gefühle, weil die Trennung entgegen ihrer Behauptung doch nicht einvernehmlich war, wie Thiede später aussagt? Kaum vorstellbar, zumal der versierten TV-Journalistin bewusst war, dass
sie sich dadurch privat, beruflich und durch öffentliche Schmutzkampagnen erheblichen Schaden zufügen würde. Ergänzend bestätigt ihre engste Freundin, dass Rachegelüste der Klägerin völlig wesensfremd seien, sie sogar lange mit sich gerungen habe, den Ex-Geliebten anzuzeigen.
Sie gibt als Motiv an, dass sie sich in dem Moment nicht mehr ganz, nicht mehr als jemand, der über seinen Körper bestimmen kann, also benutzt gefühlt habe.
. Hat sich Christian Thiede also etwas genommen, was ihm nicht zustand? Aber war Sex nicht 4 Jahre lang das dominierende Merkmal ihrer Affäre?
Ein gemeinsames Leben fand nur in beider Phantasie statt.
. Warum schweigt der mutmaßliche Vergewaltiger so beharrlich während
des Prozesses, wenn sich die Ereignisse in seiner Wohnung angeblich ganz anders zugetragen haben, es demnach zweifelsfrei keine Vergewaltigung gab? Das heißt, warum lässt er unter dieser Voraussetzung zu, dass er als Täter verurteilt wird?
. Wie aber kommen auf Grundlage seiner Schilderung dann seine Sperma-spuren auf das Kleid, das Katharina Schlüter am Tag der Tat getragen hat? War die Kleiderauswahl Zufall, die Spuren alt? Die dazu gehörte Rechtsmedizinerin sagt, dass das Alter von Sperma auf der Kleidung nicht bestimmt werden kann. Aber letztlich ist es auch nur ein Beweis dafür, dass Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, nicht aber für eine Vergewaltigung. Meiner Meinung nach wird daher über die Maßen viel Gewicht auf dieses Beweisstück gelegt.
Das Theaterstück greift weiterhin folgende Probleme auf, mit denen das Gericht gerade in einem Vergewaltigungsprozess oft konfrontiert ist:
. Kann es bei Vergewaltigungen eine zweifelsfreie Beweislage, eine lücken-lose Wahrheitsfindung geben? Kaum, denn in der Regel gibt es dafür keine Zeugen, sodass nur die Beteiligten wissen, was sich wirklich zugetragen hat.
. Muss also bei der Urteilsfindung der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) angewendet werden? Das heißt ist der Angeklagte freizusprechen, wenn Aussage gegen Aussage steht, kein Geständnis vorliegt? Der Jurist von Schirach sagt, es gibt keine Regel, dass dies geschehen muss. Denn wenn eine genaueste Prüfung aller Aussagen des Opfers und deren Bewertung unter verschiedenen Aspekten erfolgt sei und diese glaubhaft sind, dann steht einer Verurteilung nichts im Wege.
. Die Öffentlichkeit, v.a. auch die sogenannten Informations- und sozialen Medien, wirken oft im Vorfeld eines Prozesses meinungsbildend in Bezug auf die Schuldfrage. Dabei kommt es durch vorgefasste Meinungen, Sympathien / Antipathien, (Rollen-)Klischees usw. zu Vorverurteilungen, obwohl die Informationen aus dritter Hand stammen.
. Hängt die Urteilsfindung auch von Sympathien / Antipathien der Jurist
(-innen) für mutmaßliches Opfer und Täter ab, nicht zuletzt auch von ihrer eigenen Geschlechterrolle? Können sie immer vorurteilsfrei Recht sprechen oder lassen sie sich auch von Klischees und Statistiken leiten?
Heißt: Kann es ein objektives Urteil geben? Die Ausführungen der psycho-logischen Sachverständigen in diesem Theaterstück und die Plädoyers des Verteidigers und der Verteidigerin geben einen Einblick in die Problematik.
Fazit: Das Stück regt sowohl zum stillen Nachdenken als auch zum
Diskutieren an – Letzteres idealerweise mit Personen gleichen sowie anderen Geschlechts. Dabei wird die Problematik in ihrer gesamten Komplexität und mit ihren zahlreichen Facetten deutlich.
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